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Würmer in den Zähnen

Symbolbild Gebiss Historische Zeichnung

Würmer in den Zähnen
(Ein Märchen aus "Tausend und einer Nacht")

 

Dieser Blogbeitrag handelt um das sich lang im Volk festgesetzte Ammenmärchen über kleine Würmer, die die Löcher in die Zähne trieben. Karies ist seit Menschengedenken eine Volkskrankheit, die viel Leiden und Schmerzen auslöste. Umso mehr versuchten die Menschen auch in der Neuzeit sich einen Reim aus den schmerzenden Löchern zu machen. Es ist naheliegend, die Löcher ominösen Würmern zuzuschreiben. Hier eine Geschichte, in der es einen "Beweis" dieser kleinen Würmer gab:


"Vor einiger Zeit wurde ich zu einer jungen Frau beschieden, welche an heftigen Zahnschmerzen verbunden mit einer nicht unbedeutenden Geschwulst der linken Unterkieferhälfte litt. Bei der Untersuchung fand sich der zweite Backenzahn linkerseits hohl und von diesem kranken Zahn gingen die Schmerzen aus. Patientin hatte bereits zur Beseitigung der lästigen Schmerzen einige Hausmittel in Anwendung gebracht und berichtete mir zugleich über den höchst sonderbaren Erfolg eines Mittels, den ich um so lieber unsern Lesern hier vorführe, weil sie daran recht augenfällig den Unterschied zwischen vermeinter und wirklicher Erfahrung, den Unterschied zwischen oberflächlicher und gründlicher Untersuchung erkennen und einsehen lernen, welche Zeit und Anstrengung es der Wissenschaft kostet, höchst einfache und ganz leicht zu begreifende Tatsachen zur allgemeineren Geltung zu bringen und einmal eingewurzelte Vorurteile zu verscheuchen.


Die gute Hebamme war es, welche der jungen Frau das angeblich erprobte Mittel angeraten hat. Das Mittel aber war folgendes: Sie solle sich für einige Pfennige "Bilsenkrautsamen" aus der Apotheke holen lassen, eine Kleinigkeit davon auf glühende Holzkohlen streuen, und zwar über einem Topf, Waschnapf oder dergleichen. Dies letztere sei nur der Überzeugung wegen für ungläubige Seelen nötig, zum Zweck der Heilung aber sei es überflüssig. Alsdann solle sie den weit geöffneten Mund so über die Kohlen halten, dass die Dämpfe nun in den Mund bringen könnten. Durch den Dampf würden die Würmer, welche die Zahnschmerzen verursachen, aus dem Zahn ausgetrieben und stürzten sich in den Topf, in welchem sie die Tiere deutlich sich könne bewegen sehen, wenn sie etwas Wasser hineingießen würde. Auf meine Frage nach dem Erfolg dieser interessanten Prozedur erzählte mir die Patientin: es seien allerdings zwölf kleine Würmchen aus dem Zahn zum Vorschein gekommen, sie habe sie wirklich im Topf sich deutlich bewegen sehen. Gegen die Zahnschmerzen aber habe es nicht geholfen.


Nun, erwiderte ich, dass es nichts geholfen hat, soll mich nicht wundern. Wer weiß, ob nicht noch ein Paar Dutzend dieser kleinen Bestien in dem Zahn stecken und trotz des Bilsenkrautsamens ihr Geschäft lustig fortsetzen. Da wäre dann freilich das Fortdauern des Schmerzes sehr natürlich und es gälte eine Wiederholung jenes Experiments. Vielleicht dass sich durch einige neue Samen die letzten aus ihrem Versteck hervorlocken ließen.


Ich solle dabei nur nicht spaßen, meinte die Kranke. Ich könne ja ersichtlich nur mit Mühe das Lachen unterdrücken. Übrigens wahr sei die Geschichte mit den Würmchen. Sie habe ihre Bewegungen mit eigenen Augen gesehen. Ich möge sagen, was ich wolle, was sie mit eigenen Augen gesehen, das lasse sie sich nicht abstreiten. Vor einigen Wochen habe überdies ihre Frau Schwester gleichfalls auf den Rat derselben Hebamme den Versuch gemacht und sich auch mit eigenen Augen von den Vorhandensein dieser Würmchen überzeugt. Es sei also eine sichere, unbestreitbare Erfahrung und die Hebamme eine sehr erfahrene Frau.


Nun, es war nicht das erste Mal, dass ich von diesem "Würmchen" erzählt bekommen habe. Im Gegenteil, schon sehr oft hatte ich sie selber in ihren komischen Bewegungen beleuchtet, dass sich an diese Erscheinung angeheftet hat. Jetzt sah ich freilich, wie wenig das alles genutzt hatte und da dachte ich denn sofort daran, die Sache gelegentlich einmal in der Hygea zur Sprache zu bringen. Vielleicht dass es mir gelänge, den einen oder anderen Leser zu einer genauen Untersuchung zu bewegen und die eine oder die andere Leserin in den Stand zu setzen, gelegentlich einmal eine gar weise und erfahrene Frau recht von Herzen auszulachen.


Ja, man sollte es wirklich nicht glauben und dennoch ist es wahr: heute sind es schon volle hundert Jahre her, dass ein ehrwürdiger Pastor, ein eifriger und gewandter Erforscher der Natur, der alte Jakob Christian zu Regensburg in einem eigens dafür verfassten Schriftchen [Der Titel heißt: Die eingebildeten Würmer in Zähnen, nebst dem vermeintlichen Hülfsmittel wider dieselben. Nebst einer Kupfertafel in Farben. Regensburg. Manz. 1757. 4. 10 Ggr. Dies interessante Schriftchen würden wir unbedingt unseren Lesern empfehlen, aber es ist leider nicht mehr im Buchhandel zu haben.] das Märchen genau untersuchte und die dabei obwaltenden Täuschungen aufdeckte - und heute, nach hundert Jahren hält man dennoch das Märchen für die Wahrheit und sieht die Würmchen so sicher, wie zu Schäffers Zeit. Unstreitig liegt auch etwas gar Sonderliches und Wunderbares und doch wieder so natürliches in dieser Meinung, dass es mir wirklich leid tut, den Leserinnen dieses Märchen unerbittlich zerstören zu müssen.


Nichts ist indes leichter, als sich von den bei diesem Würmermärchen zugrunde liegenden zwei Irrtümern zu überzeugen und ich will meinen aufmerksamen Leserinnen die Mittel dazu an die Hand geben.


Zuerst beweise ich, dass diese "Würmchen" nicht aus den hohlen Zähnen kommen. Denn die Meinung, sie erzeugten den Zahnschmerz und würden durch die genannte Prozedur aus den Zähnen getrieben, ist einer von den beiden Würmermärchen zugrunde liegenden Irrtümern. Und wie beweist man das? Nichts einfacher als das. Man werfe in der vorgeschriebenen Weise den Bilsenkrautsamen auf glühende Kohlen oder ein heißes über Wasser gehaltenes Eisen (z.B. ein Stück Blech), ohne dass man einen hohlen Zahn und Zahnschmerzen hat oder ohne den offenen Mund darüber zu halten. Man wird sich wundern, alsdann dieselben "Würmchen" sich im Wasser bewegen zu sehen. Da aber in diesem Fall kein hohler Zahn dabei ins Spiel kommt, oder doch etwa im Mund vorhandenen Würmchen den Weg vom Mund zum Wasser versperrt war, so folgt, dass sie nicht aus einem hohlen Zahn in das Wasser gelangt sind. Daraus folgt aber weiter, dass sie also anderswoher stammen müssen. Allein woher denn?


Woher wohl anders, als aus dem zu dem Experiment angewandten Bilsenkrautsamen selbst!


Sollten denn etwa in dem Bilsenkrautsamen, vielleicht ähnlich wie in den Himbeeren oder in vielen anderen Früchten und Samen, so oft Würmer stecken und durch die angewandte Hitze aus dem Samen vertrieben werden? Das scheint doch sehr zweifelhaft, denn die "Würmchen" scheinen dazu zu groß, als dass sie in dem Samen Platz finden könnten und doch noch Nahrung darin für sie übrig bliebe.


Das ist eben der zweite Irrtum, die Meinung nämlich, dass diese "Würmchen" Tiere seien. Man hat einzig und allein aus den Bewegungen, welche man diese vermeintlichen "Würmchen" im Wasser machen sah, auf die tierische Natur derselben geschlossen. Man hat nicht gehörig untersucht. Wenn man sich die geringe Mühe gibt, etwas genauer nachzusehen, so wird man sich bald auch von diesem zweiten Irrtum überzeugen. Die vermeinten Würmchen sind nämlich nichts mehr und nichts weniger, als die in dem Bilsenkrautsamen enthaltenen Keimlinge, welche von der Natur dazu bestimmt sind, zu einer neuen Bilsenkrautpflanze auszuwachsen. Man findet daher diese Körperchen, wenn man den Bilsenkrautsamen seiner Samenschale entledigt. Da nun aber dieser auf Kohlen geworfene Samen, ähnlich wie im Ofen geröstete Kastanien, zerplatzt, so werden die Samenschalen zerrissen, und die Keimlinge fortgeschnellt. Ihre im Wasser bemerkbaren Bewegungen sind nicht tierischen, sondern rein physikalischer Natur und werden dadurch hervorgebracht, dass sie die mit dem Wasser getränkten Keimlinge ungleichmäßig zusammenziehen. Betrachtet man die "Würmchen", deren Bewegungen stets nur einen kurzen Moment dauern, durch die Lupe, so erkennt man an ihnen deutlich den gewöhnlichen Bau der Keimlinge zweisamenlappiger Pflanzen, indem man daran mit erwünschter Genauigkeit das Würzelchen un zwei kleine spitzliche Samenlappen (Keimblätter) unterscheidet.


Hoffentlich wird von nun an das Publikum mit geringerer Leichtgläubigkeit den Erzählungen "erfahrener Frauen" Gehör leihen. Da, wie ich weiß, die Hygea in viele Hände kommt, so werde ich nicht vergeblich diese Zeilen niedergeschrieben haben und man wird allgemach überall erkennen, was die Erzählungen von den Würmern in den Zähnen sind, nämlich echten Ammenmärchen aus "Tausend und eine Nacht".

Anmerkung: Eine ganz ähnliche interessante Bewegungserscheinung kann man unter dem Vergrößerungsglas beobachten an den Samen (Sporen) der Schachtelhalme (Equisetum), von denen man jetzt bald den Ackerschachtelhalm überall findet. Die mit einem Paar elastischer Fasern umhüllten Sporen tanzen auf das Sonderbarste durcheinander, wenn man nur etwas darauf haucht. Die elastischen Fasern ziehen nämlich aus dem Atem die Feuchtigkeit an sich, die sich aber durch Verdunsten sogleich wieder entfernt, und so kann man durch wiederholtes Anhauchen diese Keimlinge sich lange Zeit bewegen sehen."

Quelle: Hygea. Populäre medizinische Zeitung zur Belehrung und Unterhaltung für Gebildetere beiderlei Geschlechts insbesondere den Geistlichen, Lehrern und Erziehern gewidmet. Zweiter Jahrgang, Nr. 8, Münster, den 15. April 1858


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