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Die soziale Wertung der Artillerie

Von Dr. G. Liebe, Kgl. Archivar.

 

Soziale Einschätzung bestimmter Waffen ist auf den verschiedensten Kulturstufen zu beobachten und bei dem starken Einfluss der ökonomischen und Standesverhältnisse auf das Kriegswesen unschwer zu erklären. Es sei nur auf die technische Bezeichnung des berittenen Kämpfers der Feudalzeit als «Gleve» und «Helm» aufmerksam gemacht. Das Schwert vorzugsweise erscheint im früheren Mittelalter als ritterliche Waffe, die dem Unfreien versagt blieb. Im Allgemeinen gilt wenigstens für das Abendland als Regel, dass die ein stärkeres Einsetzen der Persönlichkeit erfordernden Nahwaffen für ehrenvoller gelten. Schon gegen die Armbrust, die infolge der Kreuzzüge eindrang, erhob sich ein Sturm der Entrüstung: 1139 verbot Papst Innozenz II. «die todbringende, gottverhasste Kunst der Armbrust- und Bogenschützen gegen Christen zu üben.» Heftigere Anfeindung noch erfuhr die unerhörte Erfindung des Feuergeschützes, die dem Verächtlichen das Unheimliche gesellte. Die italienischen Renaissance-Taktiker sahen mit Abneigung auf die «deutsche Pest», für die kein Raum war in ihren der Antike entnommenen Theorien, und der ehrliche Haudegen Götz von Berlichingen macht in der Nürnberger Fehde das bedrückte Geständnis: «es kann nicht ein jeglicher das Gebelder leiden.»

 

Während die Handfeuerwaffen mit ihrer zunehmenden Ausbildung sich unwiderstehlich einen Platz in der modernen Taktik sicherten, blieb den Geschützen die volle kriegerische Ehre noch auf lange hinaus versagt. Den Rang als dritte Waffe gewann die Artillerie erst Ende des 17. Jahrhunderts, und noch weit später wurde sie nicht für voll angesehen. Die Ursache lag in ihren Vertretern. Die berufenen Kämpfer stellte erst die Feudalreiterei, dann das Fußsöldnertum der Landsknechte; erstere führte stets, letzteres überwiegend Nahwaffen. Die Artillerie war anfangs vorzugsweise die Waffe der Städte.

 

Die ersten Nachrichten über das Vorkommen von Pulvergeschützen zeigen ausschließlich Städte im Besitz von «Büchsen»: 1346 Aachen, 1356 Nürnberg, 1362 Erfurt, 1370 Köln.1 Es ist das leicht erklärlich, da sich hier am ehesten die technischen Kenntnisse und die materiellen Mittel vereinigt fanden, deren man zur Herstellung der neuen Kriegsmaschinen benötigte. Hatten sich doch die Städte schon durch reichen Besitz an älterem Wurfgezeug ausgezeichnet.

 

Notgedrungen mussten ihnen die Fürsten auf der eingeschlagenen Bahn folgen, 1371 erscheint zum ersten Mal ein Büchsenmeister im Dienst der wettinischen Markgrafen.2 Aber noch auf lange hinaus sind die Städte entschieden überlegen und bis ins 16. Jahrhundert pflegen die Fürsten bei vorfallenden Fehden ihren Artilleriepark aus städtischen Zeughäusern zu ergänzen. In beider Händen richtete sich die vornehmlich poliorketische Bedeutung der neuen Waffe gegen diejenigen, die sich bisher eifersüchtig das Waffenrecht gewahrt hatten, die Ritterschaft. Die Büchsen demütigten den märkischen Adel vor dem Nürnberger Tand und hinter den zerberstenden Riesenmauern seines Landstuhls bekannte der wunde Sickingen, dass er «sein Lebtag solch unchristliches Schießen nicht gehört.»

 

Nicht erhöhen konnte es die Sympathie für die neuen Kriegswerkzeuge, dass sie in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens auf die Feldschlacht von geringem Einfluss gewesen sind. Das konnte nicht anders sein bei der Schwerfälligkeit des Transports und der langsamen, ungeschickten Handhabung, die einen Treffer häufig als besonderen Glücksfall erscheinen ließ. Sehr bezeichnend schlug 1446 die Stadt Halle dem Magdeburger Erzbischof Friedrich die Bitte um ihre große Büchse, den Strauß, ab, weil sie keinen Wagen hätten, ihn über die schwache Brücke zu führen.3 Bedurfte doch die Nürnberger Kriemhild außer dem Wagen für das Rohr noch elf weitere für Ausrüstung und Geschosse. Waren diese Ungetüme aber glücklich auf die Wahlstatt gebracht, so gelangten sie selten über wenige, oft genug unwirksame Salven hinaus und waren nur zu leicht der Gefahr der Überrumpelung ausgesetzt.

 

Die Vorliebe für große Kaliber und die Willkür in deren Anlage verlieh den Geschützen einen individuellen Charakter, der sich in der beliebten Namengebung ausspricht, hinderte aber die Zusammenfassung zu taktischen Verbänden. Wie es infolge der feudalen Grundlage bis ins 16. Jahrhundert keine Kavallerie gab, sondern nur Reiter, so keine Artillerie, sondern Geschütze. Die artilleristische Taktik blieb auf das rein Technische, die Geschützbedienung beschränkt, und den Büchsenmeistern haftete ein handwerksmäßiger Charakter an.

 

Anders in den französischen und burgundischen Heeren, wo früh auf die Ausbildung einer Feldartillerie Gewicht gelegt wurde. Hier bekleideten Edelleute die leitenden Stellen der maitres d’artillerie — der Name entstammte noch den Zeiten, da Artillerie wie das deutsche Zeug überhaupt Kriegsmaterial bedeutete.4 In Deutschland fand eine solche Stellenverteilung höchstens von Fall zu Fall statt. So verordnet 1478 Albrecht Achilles für den Zug gegen das pommersche Vierraden als Hauptleute zu den Büchsen» u. a. Claus von Arnim, den Grafen von Zollern, Lorenz von Schaumberg und den von Bartensieben.5

 

Das geschulte Artilleriepersonal bestand in Deutschland in den ersten Jahrhunderten einzig aus den Büchsenmeistern, deren je einer auf ein Geschütz gerechnet wurde, auf die größten zwei; ihnen waren nur untergeordnete Handlanger als Hilfe beigegeben. Der geringen Arbeitsteilung der Zeit entsprechend lag ihnen neben der Bedienung auch die Herstellung der Büchsen ob, nebst den nötigen Reparaturen und der Pulverbereitung. Ihrer Herkunft nach meist Handwerker, die aus ihrem Beruf gewisse Vorkenntnisse mitbrachten, Schmiede, Rotgießer, erwarben sie ihre Ausbildung ebenfalls nach Handwerksbrauch auf der Wanderschaft zu anerkannten Meistern. Das so erworbene Wissen wurde als Zunftgeheimnis behandelt und nur mündlich oder handschriftlich überliefert. Dieser Schleier des Geheimnisses diente Rücksichten des Vorteils wie der Sicherheit. Darum verordnet die Büchsenmeister-Verrichtung der Stadt Erfurt noch 1628: «wer jemand anders diese Kunst heimlich zu unterrichten oder zu entdecken sich unterfangen würde, der soll nach Artilleriegebrauch gestraft werden.»6

 

Den Niederschlag des artilleristischen Wissens im 15. Jahrhundert haben wir in dem sogenannten Feuerwerksbuch zu sehen, dessen Inhalt im ersten Jahrzehnt niedergeschrieben von einer Generation der anderen überliefert wird, ohne andere als rein empirische Fortbildung zu erfahren. Den Kern bilden die «zwölf Büchsenmeisterfragen», die sich als kurze Zusammenfassung des Zunftwissens forterben bis an die Schwelle des großen Krieges.

 

Über seine ordnungsmäßige Ausbildung erhielt der Lehrling eine «Kundschaft», die für seine Anstellung von Bedeutung war, denn wie Fronsperger in seinem Kriegsbuch sagt: „Hat er nichts vorzuzeigen, so mag man ihn fahren und weiter passieren lassen; man findet derselben viel, so der Büchsenmeister Handreicher gewesen sind und meinen, wenn sie ein Büchsen laden und anzünden können, sie seien Büchsenmeister, so fehlt es dennoch weit, es gehört mehr dazu.“

 

Verwertung ihrer Kenntnisse suchten die Ausgelernten wie andere Kriegsleute als Söldner, doch führte die Seltenheit ihres Wissens früh dazu, dass kriegerische Machthaber tüchtige Leute dauernd an sich zu fesseln suchten. Sie erhielten dann wie vor ihnen die Schützenmeister, welche die mechanischen Werfzeuge verfertigten und bedienten, ein herrschaftliches Schloss als Garnison angewiesen nebst bestimmten Naturalien- und Geldhebungen aus den Amtsgefällen. So erhielt 1371 der erste namentlich erwähnte sächsische magister bixidum zu Dresden, Johann Schuftei, vier Mark und zwei Malter Korn jährlich. Als Verpflichtungen eines markgrätlichen Büchsenmeisters zu Leipzig bezeichnet eine Bestallung von 1395 «unser Büchsen zu warten und die zu fertigen und uns damit zu dienen.»7 Später war es vor allem Landgraf Philipp, der Schöpfer der hessischen Artillerie, der in umsichtiger Weise sich einen festen Stamm von Büchsenmeistern zu sichern wusste.

 

In Friedenszeiten hatten diese Angestellten die Funktionen von Zeugwarten wahrzunehmen, die später wohl zu Zeugmeistern aufstiegen, d. h. sie waren Materialverwalter, sorgten für die nötigen Reparaturen und als kundige Feuerwerker für Anfertigung von Munition. Brach Krieg aus, so wurde die nötige Zahl teils durch Anwerbung ergänzt, teils, indem man sich Leute bei befreundeten Herren und Städten lieh. Dann erst wurde jedem Meister ein bestimmtes Geschütz zugewiesen, so heißt es bei dem oben erwähnten Unternehmen gegen Schloss Vierraden 1478: «Meister Hans soll haben die Hauptbüchse, die Sternbergerin der Büchsenmeister von Culmbach, der Wale die große Büchse, die von Frankfurt kommen ist, und der Bairische die Nürnbergerin.» Die Aufzählung lässt recht deutlich die Buntscheckigkeit des Materials wie der Bedienung erkennen, wodurch jede einheitliche taktische Leitung unmöglich gemacht wurde.

 

In gleicher Weise wie die Fürsten bemühten sich die größeren Städte bewährte Meister in ihren Dienst zu ziehen, denen die Herstellung des Geschützmaterials und dessen Verwaltung oblag, während sie für die Bedienung im Ernstfall den Vorteil genossen, aus der Bürgerschaft Kräfte heranziehen zu können. In Braunschweig erscheint 1400 zuerst ein Büchsenmeister in städtischem Sold mit dem für seine Vorbildung bezeichnenden Namen Gropengheter. In den folgenden Jahrzehnten bekleidet die Stellung Henning Bussenschutte, der Gießer der berühmten «faulen Mette», eines frühen Prachtstückes des Bronzegusses von 160 Zentnern Gewicht. 1430 schloss der Rat mit ihm einen Kontrakt auf zehn Jahre gegen 4 1/2 Mark Jahressold.

 

Nahe an 300 Jahre haben Meister in städtischem Sold gearbeitet, jene reichhaltige Artillerie zu schaffen, die 1532 Landgraf Philipp von Hessen bewog, seinen Zeugmeister nach Braunschweig zum Studium zu entsenden. Gelegentlich machte die Stadt freilich dabei trübe Erfahrungen. 1550 wurde Cord Mente ausgewiesen, weil er gegen seinen Eid in gefährlichen Läuften die Stadt verlassen hatte, andern zu dienen. Ende des Jahrhunderts setzte sich ein Meister ein übles Denkmal in den nach ihm benannten «bösen Wilkensstücken», von denen nicht wenige bei der Belagerung von 1605 sprangen. Aufgrund des ausführlichen Befundes einer 1611 zusammengetretenen Kommission auswärtiger Büchsenmeister erhob daher der Rat Ersatzansprüche, über welche sich ein langer Streit mit der Witwe des inzwischen verstorbenen Meisters erhob.8 Wie oben erwähnt, fanden sich in größeren Städten nicht wenige Bürger, welche der Herstellung wie Bedienung von Geschütz kundig waren und diese im Bedarfsfall für die Heimat oder um Sold in der Fremde ausübten, während sie für gewöhnlich ihrem Handwerk nachgingen. Ein anschauliches Bild davon entwirft die Korrespondenz des Rates von Zerbst mit einem Magdeburger Bürger um 1450. Dieser hatte es auf sich genommen, der um ihre Sicherheit besorgten Stadt Büchsengießer zu verschaffen und meldet nun seine Verhandlungen mit einem Rotgießer, der den hohen Lohn von vier Schilling-Groschen die Woche verlange. «Und er sagt, er kann Büchsen gießen und mancherlei schießen mit Feuer oder Hagelschuss und kann auch die Steine selbst dazu hauen.» Offenbar suchten die Meister die günstigen von Mars beherrschten Konjunkturen auszunutzen, denn ein andermal heißt es, von Magdeburg seien die Büchsenmeister teils gegen Hildesheim, teils nach Danzig verzogen. Interessant ist das fachmännische Urteil über den Kostenpunkt der gewünschten fünfzehn Tarrasbüchsen. Der befragte Meister meint, sie kosteten mehr Arbeit als Steinbüchsen, denn man müsse Zinn und gutes Kupfer dazu tun und das Kupfer wäre jetzt teuer, auch müssten sie fester sein als Steinbüchsen, denn sie müssten mehr leiden, weil die bleiernen Lote fester säßen und härter schössen als Steine. Sie müssten einen Zentner Gewicht haben und er am Zentner vier Schock Groschen verdienen.9

 

Wie die Städte bemüht waren, für den Kriegsfall Bürger artilleristisch auszubilden, um weniger als die Fürsten von Söldnern abhängig zu sein, darüber gibt das Verfahren Erfurts Aufschluss. Hier setzt schon die kriegsmäßige Bestellung der Stadtbefestigungen von 1528 voraus, dass der Rat in jedem Viertel zwölf junge freidige Bürger im Schießen mit dem Geschütz unterrichten lässt. Nach der Artillerieordnung von 1628 hat ein Konstabler die Aufsicht über die Geschütze und soll diejenigen unterrichten, «welche diese Kunst recht zu begreifen gute Lust und Behebung tragen.» «Erstlich soll er ihnen die fundamenta wohl einbilden, sonderlich den Quadranten recht verständigen, was der Schuss in Blei, Eisen und Stein von Grad zu Grad in die Weite sich erstrecket, es sei grade, zur Seiten oder Bogenschüsse zu machen. Item die Stück abzuprobieren, ob sie inwendig grubig und in den Angeln just inne liegen, item die Gefäß und Ruthe abzuwägen, damit sie zu völliger Wissenschaft allbereit gelangt, ehe die Proben geschossen und geworfen werden.»

 

Kein günstiges Zeugnis freilich ist es für den soldatischen Sinn der Bürger, dass die von 66 Bürgern Unterzeichneten Erinnerungen zum Artikelsbrief sich beklagen, dass man sie Kuhstabel u. a. schelte.10 Die starke Vertretung des bürgerlichen Elements trug sicher dazu bei, die Artillerie in den Augen der mit starrem Korpsgeist behafteten Söldner herabzusetzen. Dazu kommt, dass auch die berufsmäßigen Büchsenmeister, welche nicht im Frieden zu bürgerlicher Hantierung zurückkehrten, alsdann doch unkriegerischen, handwerksmäßigen Beschäftigungen oblagen, wie Reparaturen und Pulverherstellung. Zumal die unkriegerische zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, die durch die Versumpfung des kriegerischen Geistes das kommende Unheil mit verschuldet hat, beförderte die Neigung zur Feuerwerkerei. In der Fachliteratur fand diese ihren Ausdruck in einer steigenden Häufung von Rezepten oft wunderlicher und abergläubischer Art, die mit ihrer Vorliebe für Sprengwirkungen ein fremdes abstoßendes Element in das Kriegswesen brachten. Es war wohl die volksmäßige Anschauung, der Luthers Worte zum Dolmetsch dienen mögen: «Büchsen und das Geschütz ist ein grausam schädlich Instrument, zersprengt Mauern und Felsen und führt die Leute in die Luft. Ich glaube, dass es des Teufels und der Hölle eigen Werk ist, der es erfunden hat als der nicht streiten kann sonst mit leiblichen Waffen und Fäusten.»

 

Solcher schädlichen Bundesgenossenschaft suchte zwar die Gemütsrichtung des Mittelalters zu begegnen, die jede Hantierung durch den Schutz eines Heiligen zu weihen bestrebt war. Zu den kriegerischen Heiligen St. Georg, St. Martin, St. Sebastian, St. Gereon, St. Moriz gesellte sich St. Barbara als Patronin der Artilleristen, weil sie ursprünglich gegen Blitzgefahr angerufen wurde.

 

Aber die meisten Kriegsleute werden wohl der von Fronsperger wiedergegebenen Ansicht gewesen sein: »So wird schier kein Mann oder Tapferkeit in Kriegssachen mehr gebraucht, dieweil alle List, Betrug, Verräterei samt dem gräulichen Geschütz sogar überhandgenommen, also dass weder Fechten, Balgen, Schlagen, Gewehr, Waffen, Stärke, Kunst oder Tapferkeit mehr helfen oder etwas gelten will. Denn es geschieht oft und viel, dass etwa ein männlicher tapferer Held von einem losen verzagten Buben durch das Geschütz erlegt wird, welcher sonst einen nicht freventlich dürfte besehen oder ansprechen. Die Wertschätzung der Einsichtigen freilich trat in der Forderung gesteigerter Verantwortlichkeit wie in den gewährten Vorrechten zu Tage. Ein so regelmäßiger Bestandteil der Feuerwerksbücher wie die zwölf Fragen sind gewisse sittliche Forderungen, die sehr im Gegensatz zu den gewöhnlichen militärischen Gepflogenheiten stehen, Gottesfurcht, ehrbarer Wandel und Nüchternheit.

 

Eine Illustration dazu aus der Praxis liefert die Hofordnung des Erzstifts Magdeburg von 1598, die dem Büchsenmeister auf der Morizburg zu Halle vorschreibt, das ihm Anvertraute in guter Acht und fleißiger Verwahrung zu halten, keine Nacht ohne Urlaub des Hauptmanns außen zu bleiben und sich des übermäßigen Saufens zu enthalten.11 Dafür genossen die Büchsenmeister im Felde große Vorteile, wie sie sich bei dem bekanntesten älteren Militärschriftsteller, Fronsperger, kodifiziert finden. Sie empfingen drei bis vier Solde und hatten, wenn ein Platz genommen war, Anspruch auf alle bei den Geschützen gefundene Munition und alle Glocken. Denn diese gaben ein wertvolles Herstellungsmaterial ab; Luther gebraucht das Sprichwort: „Sammle dich, Glockspeise, der Teufel will ein Mörsel gießen“; und um die Mitte des 15. Jahrhunderts beschuldigt die Priorin in Freiberg den Bürgermeister, dass er die Klosterglocken zum Geschützguss verwendet habe.12

 

Im Lager hatte die für sich aufgestellte Artillerie das Asylrecht in Fällen unvorsätzlichen Totschlages. Wie wenig diese in bewusster Absicht gewährten Zugeständnisse das bestehende Vorurteil zu beseitigen vermochten, erhellt aus der geringen Vorliebe, die trotz der Blüte deutscher Artillerie die deutschen Fürsten im Allgemeinen ihr zugewandt haben. Wenn man an die Nachblüte des Turniers in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert denkt, wird man nicht im Zweifel sein, wo die Interessen der hohen Herren lagen. Eine solche einsichtsvolle Würdigung, wie die Kaiser Maximilians, die sich bis zu persönlicher Liebhaberei steigerte, ist vereinzelt geblieben. Schildert doch der Weißkunig ausführlich seine artilleristischen Neigungen, die ein Holzschnitt Burgkmairs erläutert, indem er den vielseitigen Fürsten im fachkundigen Gespräch mit zwei Geschützgießern zeigt.

 

Auch eine mehr praktische Wertschätzung, wie sie Landgraf Philipp von Hessen betätigte, ist nicht häufig. Ihm, der seine kriegerischen Erfolge nicht zum mindesten seiner aus dürftigen Anfängen geschaffenen Artillerie verdankte, haben auch seine Büchsenmeister dankbare Treue gewahrt. Während der Gefangenschaft des Landgrafen machten 1550 ihrer mehrere einen Anschlag zu seiner Befreiung, der aber verraten wurde, weil sie eine alte Standesvorschrift nicht beherzigt hatten und beim Mahl „ihnen durch den übrigen Trunk das Maul ließen auftauen.“ Dem Zeugmeister Rommel, der auch den Briefwechsel des Gefangenen mit seinen Räten vermittelt hatte, wurde zum Lohn seine Stelle lebenslänglich bestätigt. Seinem Bruder Ulrich wurde das Unglück des Landesherrn zum Ausgang eines romantischen Schicksals. Abgedankt und auf vergeblicher Suche nach Dienst in bittere Armut geraten fand er endlich ein Unterkommen in Frankreich und befand sich auf einem der Schiffe, die das vom Kaiser als Beute nach Spanien geschickte hessische Geschütz abfingen. Seine Bemerkung, dass er aus einigen dieser Stücke geschossen habe, zog ihn mit einem Schlage aus der Dunkelheit. Der König beschenkte ihn mit einer goldenen Kette und sandte ihn nach Deutschland mit dem Auftrag, unter den günstigsten Bedingungen deutsche Geschützgießer anzuwerben.13

 

Der Ruf tüchtiger Leistungen einzelner musste sich allerdings umso mehr steigern, je unsicherer im Allgemeinen die Handhabung der gefährlichen Maschinen war. Die Kriegsberichte enthalten zahlreiche Mitteilungen, die uns nicht mit Hochachtung vor den ballistischen Leistungen erfüllen können. Bei der Belagerung Magdeburgs durch die Kaiserlichen 1551 erhielt der nördliche Turm der Jakobskirche — derselbe, den Raabe in seiner Erzählung «Unsers Herrgotts Kanzlei» zum Sitz des unheimlichen Büchsenmeisters macht — an einem Tage von 12 Stücken 320 Schüsse. Aber wie der Bürger Besselmeier, ein Mitkämpfer, berichtet: «Es ward nichtsdestominder davon wieder herausgeschossen.»

 

Bei der mangelnden Übung dürfen solche Misserfolge nicht wundernehmen. Dass die Artillerie keine stehende Truppe war, musste für sie noch nachteiliger sein, als dies bei anderen Waffengattungen der Fall war, zumal bei der großen Verschiedenheit der Stücke. Die Städte wenigstens versuchten dem durch gelegentliche Übungsschießen gleich denen der Schützengilden abzuhelfen, wie sie besonders aus Nürnberg überliefert werden. Das Germanische Museum enthält bildliche Darstellungen feierlicher Auszüge zu solchen Schießen aus den Jahren 1592 und 1733, erstere mit gereimtem Text:

 

„Der Pritschenmeister und Spielleut,

Die man gesucht hat diese Zeit,

Darnach Zeugmeister und Leitenampt

Die Schützenmeister allesamt

Ihre Bürger und Schiessgesellen

Täten sich gleicher Weis einstellen.

Darnach tut man aus dem Zeughaus

Sieben Stück in der Ordnung führen heraus.14

 

Auch in Erfurt wurde denjenigen Bürgern, welche auf Stadtkosten zu Büchsenmeistern ausgebildet waren, eine jährlich wenigstens zweimalige Übung vorgeschrieben, «wobei wir dann nach Gelegenheit jedes Mal einen annehmlichen Gewinn ordnen wollen.»

 

Wie der große Krieg überhaupt keine seiner Dauer entsprechenden Veränderungen im Kriegswesen hervorgebracht hat, so war es auch auf artilleristischem Gebiet. Der untergeordnete Charakter der Leistungen äußert sich auch literarisch in der Vorliebe für handliche Kompendien. Sozial machte sich bei den Büchsenmeistern dieselbe Verrohung geltend wie in der übrigen Soldateska. Auch unter ihnen zieht die wilde Zeit Landsknechte groß wie jenen Zeugmeister Köhler, der bei seinem Eintritt in braunschweigische Dienste 1666 bereits in 46 Jahren sechs Herren als Handlanger, Konstabler, Feuerwerker, Zeugleutnant und Zeugmeister gedient hatte. Solche Leute fügten sich oft schwer in geordneten Dienst. 1633 beklagt sich der Braunschweiger Zeugmeister Kittel über den Zeugherrn, ein Ratsmitglied, dass er ihn, der 20 Jahre Kriegsdienste getan habe, behandle wie seinen Hundejungen, und zwei Jahre darauf hielt er es für nötig, gegen einen Kollegen «seine Ehre wie ein rechtschaffener Kriegsmann zu defendieren,» indem er ihn durch einen Degenstich verletzte.15

 

Selten begegnet eine so sympathische Gestalt wie der wackere Wendelin Schildknecht, der Stadt Stettin Ingenieur und Zeugmeister, dessen 1652 erschienene Festungsbaukunst das seltene Problem löst, ein technisches Thema mit volkstümlichem Humor zu behandeln. Eine vierzigjährige Kriegserfahrung hat ihn nicht stumpf gemacht, das Leid des Vaterlandes zu empfinden, und er ist stolz auf seine Erlebnisse. »Wer mir das nicht glauben will, der komm ins Bad wann ich drinnen sitze, so wird er mit Augen sehen, dass mir eine 36-pfündige Karthaunenkugel ein Pfund Fleisch vom Leibe weg geraspelt ohne die anderen Narben, da Blei gesessen und herausgeschnitten; jedoch das rechte Auge, welches mir anno 29 aus dem Visier geschossen worden, sehen die Leute außerhalb dem Bade in der Kirchen wohl.»

 

Die schroffe Ausbildung soldatischen Korpsgeistes, die der lange Krieg befördert hatte, konnte für das Ansehen des städtischen Konstablertums nicht von Vorteil sein, wenn auch die Artillerie das dauerhafteste Element städtischer Wehrhaftigkeit blieb. Sie erwies noch 1666 zu Erfurt ein starkes Selbstgefühl, als die Bürgerkonstabler ihre Freiheit von Einquartierungsgeldern verteidigten. Sie kämen alle zehn Tage auf Wache, andere Bürger alle zwanzig, auch sei bei der Artillerie kein Kinderspiel, sondern jeder habe seinen Feind nicht nur vor, auch um und neben sich, «dass auch wohl bei Freudenschüssen etliche Personen hier in dieser Stadt mit einem Fass Pulver in die Luft gangen, zu geschweigen, was bei Belagerungen und dergleichen Occasionen vorzugehen pflegt, wie solches auch etliche bei jüngster Belagerung leider mehr als zu wohl erfahren, dass mancher Zeit seines Lebens daran zu klauben hat.»

 

Zur Schaffung eines Standesgefühls konnte der Anteil eines solchen von Haus aus unkriegerischen Elements nicht führen und zur Hebung der Leistungen auch nicht. Erscheinungen wie Furttenbach, der in Italien ausgebildet als Artillerist und Ingenieur in Ulm tätig war und eine reiche schriftstellerische Tätigkeit ausübte (verst. 1667) blieben Ausnahmen.

 

Eine Förderung, die der große Krieg trotz der entsetzlichen Verrohung in seinem Gefolge auf die geistigen Bestrebungen ausgeübt hat, war die Anregung, den rechtlichen und sittlichen Grundlagen des Krieges nachzuforschen, deren monumentalsten Erfolg das Werk des Niederländers Gratius darstellt. Auch die Artillerie hat von dieser Richtung Vorteil gezogen. 1629 erörtert der Pfarrer Schwach die Frage, «ob ein christlicher Potentat gegen seinen Feind sich der schädlichen blutvergießenden Instrumente, des groß und kleinen Geschützes, Feuerwerfens, Minierens und dergleichen mit gutem Gewissen gebrauchen könne.» Er zitiert die Anschauung: «Dass rechtmäßige Kriege zu führen von Gott erleubet und von christlicher Obrigkeit zugelassen und befohlen sei, streitet man nicht, es soll aber mit der Faust, Schwert und Mannheit geschehen. Dass man nun hierüber die schädliche und schreckliche Artigliaria brauchet, ganze Festungen, Städte und Plätze damit in Haufen stürmet, in Brand stecket und nicht allein so schöne herrliche Gebäu, sondern auch oftmals Menschen und Viehe jämmerlich darinnen verderben lässet, item dass man so tyrannisch unter die Menschen schießen, in die zehn, zwanzig, dreißig mit den großen Stücken auf einmal niedermachen tut, das ist schrecklich, unchristlich und unrecht.» Dagegen bemerkt er selbst sehr vernünftig: «Wenn der Krieg an sich rechtmäßig ist, so ist das Totschlägen der Feinde auch nicht unrecht, denn das ist das rechte Essentialstück des Krieges, nämlich den Feind schlagen, erschlagen und erlegen, denn darauf folget das gesuchte Zweck und Ziel, nämlich Recht, Gerechtigkeit und Friede.

 

Ja, der aufgeklärte Theologe widerlegt sogar «der Italiener und anderer Nationen Opiniones und Vorgeben, als ob das Büchsenpulver und Geschütz nicht von den edlen Deutschen, sondern von andern Völkern erfunden worden.» Schon den Standpunkt des modernen Völkerrechts vertritt Moscherosch in seinen Geschichten Philanders von Sittewald aus den letzten Kriegsjahren. Erst führt er wie oben Fronsperger die Anschauung von dem unberechtigten Vorteil des Feigen gegen den Tapferen ins Gefecht, «und bei diesem allen lässt man es noch nicht verbleiben, sondern man gebrauchet sich vergifteter Kugeln und Granaten, welche mit vielen Schüssen ausgefüllet, große Kugeln, die Ketten, Steine oder kleine Kugeln von sich werfen.» Mit etwas kühner Behandlung der Chronologie bringt er zum Tröste bei, dass etwa zu derselben Zeit 1440 die Buchdruckerkunst erfunden sei, die so viel Segen gestiftet habe.

 

Einen wichtigen Schritt vorwärts für die soldatische Stellung der Artillerie war Brandenburg zu tun Vorbehalten. Der Große Kurfürst, der durch die Verstaatlichung der Regimenter, durch die Einführung der Uniform bahnbrechend für die Modernisierung des Kriegswesens gewirkt hat, der es verstand, bei Fehrbellin sein Geschütz durch Anpassung an das Gelände zu überraschender Geltung zu bringen, er ist es auch gewesen, der die Artillerie zur dritten Waffe erhoben hat. Nachdem noch 1672 eine Ordnung für die Artilleriebedienten in den kurfürstlichen Festungen ergangen war, die auch den Büchsenmeistereid enthielt, erfolgte 1683 die Errichtung von fünf Kompagnien. Auch seine Nachfolger wandten der neuen Waffe fortgesetzt ihre Aufmerksamkeit zu, und es ist bezeichnend, dass wenigstens in den höheren Stellungen jetzt die Angehörigen alter Familien erscheinen, so der ausgezeichnete v. Linger, der 1743 zum General der Artillerie ernannt wurde.

 

Indessen, wenn auch der soldatische Charakter der Artillerie entschieden, ihre Verbindung mit dem Bürgertum, wie bei den bekannten Anschauungen Friedrich Wilhelms I. selbstverständlich, gelöst war — für gleichberechtigt wurde sie deshalb noch keineswegs angesehen, auch war die Entwicklung in Preußen am weitesten fortgeschritten. Wenn der Zunftcharakter auch rechtlich beseitigt war, sozial klebte er den einzelnen Mitgliedern immer noch an. Gingen doch immer noch die Offiziere vielfach aus dem Handwerkerstand hervor; jedenfalls pflegten sie von der Pike auf zu dienen und ihr Wissen beschränkte sich weit entfernt von theoretischer Durchbildung auf eine Anzahl handwerksmäßiger Kunstgriffe. Bei ihrer sozialen Einschätzung auf die unsoldatischen Beschäftigungen der Materialverwaltung und Munitionsverwaltung zu sehen lag nahe, da ihnen selbst die Lustfeuerwerkerei als Krone des Berufs galt, nach deren Erlernung man in althergebrachter Weise unter Erteilung eines Lehrbriefes losgesprochen wurde.16

 

Für Preußen bedeutete der Siebenjährige Krieg wohl einen neuen Fortschritt; nicht nur die Zahl wurde außerordentlich vermehrt, es trat auch durch die Abtrennung der Depotverwaltung das soldatische Element in der Feldartillerie schärfer hervor, und das offensive wurde durch die 1758 erfolgte Einführung der reitenden Artillerie verstärkt. Und doch kam die mindere Ehre der so gehobenen Waffe zum schneidenden Ausdruck darin, dass bei ihr allein außer den als irregulär geltenden Husaren Bürgerliche als Offiziere zugelassen werden.

 

Die entscheidende Änderung geschah erst mit der Einrichtung militärischer Bildungsanstalten für die Offiziere der Artillerie, wodurch gleicherweise das wissenschaftliche wie das Standesinteresse betont wurde. Die erste dem bekannten Gründungsjahre nach ist die kursächsische von 1766, aber zum mindesten ebenso alt ist die des Grafen zur Lippe. Aus ihr ist der hervorgegangen, der wie der Artillerist Bonaparte auf taktischem Gebiet, so auf organisatorischem die neue Zeit heraufführte: Scharnhorst.

 

1 Köhler, Entwicklung des Kriegswesens etc., IIIA, S. 225.

2 Lippert, Über das Geschützwesen der Wettiner im 14. Jahrhundert (Hist. Untersuchungen Förstemann gewidmet), S. 94.

3 Staatsarchiv Magdeburg A Erzstift II 759.

4 Köhler a. a. O. IIIB, S. 211, A S. 241; Jahns, Geschichte der Kriegswissenschaften, S. 317.

5 v. Raumer, Beiträge zur Kriegsgeschichte der Kurmark Brandenburg i. 15. Jahrhundert in Ledeburs Archiv I.

6 St. A. Magdeburg, Erfurt, U XXVI 18.

7 Lippert a. a. O. S. 91.

8 Ueber die Braunschweiger Verhältnisse unterrichtet die ausgezeichnet gründliche Arbeit von Oberstleutnant z. D. Meier: Die Artillerie der Stadt Braunschweig (Zeitschrift des Harzvereins 1897).

9 Hertel, Urkundenbuch der Stadt Magdeburg II, Nr. 675, 111. Anh. Nr. 58.

10 St. A. Magdeburg, Erfurt, U XXVI 18; Liebe, Kriegswesen der Stadt Erfurt.

11 St. A. Magdeburg A Erzstift II 32.

12 Urkundenbuch der Stadt Freiberg: ed. Ermisch (Cod. dipi. Sax.) I, S. 426.

13 Leydhecker, Aus d. älteren Geschichte d. hessischen Artillerie (Archiv I. hess. Geschichte 79)

14 Reproduktionen bei Liebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit 1899, S. 69, 126.

15 Meier a. a. O.

16 Lehmann, Scharnhorst, S. 21.


Quelle: Zeitschrift für Historische Waffenkunde. Organ des Vereins für historische Waffenkunde. II. Band. Heft 5. Dresden, 1900-1902.