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Das Geschützprobieren

 

Von Paul Reimer, Oberleutnant im Badischen Fußartillerie-Regiment Nr. 14.

 

Solange die Technik noch so wenig durchgebildet war, dass jeder gefertigte Gegenstand wegen der nicht zu vermeidenden Zufälligkeiten bei der Herstellung, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, ein technisches Individuum war, musste jedes Stück, von dessen Haltbarkeit viel abhing, also insbesondere jedes Geschützrohr, einzeln auf seine Festigkeit geprüft werden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war man nun der nicht unberechtigten Ansicht, dass eine fortgesetzte normale Beanspruchung doch zur Zerstörung der Konstruktion führen könne, auch wenn dieselbe einer probeweisen, der normalen entsprechenden Anstrengung standgehalten hätte. Man wählte daher zu der Haltbarkeitsprobe eine wesentlich höhere Beanspruchung, indem man annahm, dass das Geschütz etc., wenn es diese bestanden, die normale Beanspruchung ganz sicher auf die Dauer aushalten werde. Man bedachte dabei allerdings nicht, dass gerade die erhöhte Beanspruchung bei der Probe den Grund zu Schädigungen der Konstruktion legen kann, welche dann auch der normalen Anstrengung nicht mehr gewachsen ist, während sie ohne diese Kraftprobe lange Zeit ausgehalten hätte.

 

Es wurde also bis in das 19. Jahrhundert hinein jedes Geschütz mit einer wesentlich erhöhten Ladung auf Haltbarkeit geprüft. Bei geschmiedeten Geschützen war dieses Verfahren nicht unangebracht. Das Gelingen einer guten Schweißnaht ist lediglich von der Geschicklichkeit des Arbeiters abhängig und dem besten Schmied läuft manchmal eine schlechte Schweißung mit unter, deren Natur erst bei sehr hoher Beanspruchung zutage tritt und meist verbessert werden kann. Weniger notwendig erscheint eine solche Gewaltprobe bei gegossenen Rohren, deren homogenes Metall bei einmal als genügend erkannter Stärke stets dieselbe Haltbarkeit besitzen muss. Indessen scheint man in früherer Zeit zu der Gießkunst kein besonders hohes Vertrauen gehabt zu haben, man fürchtete Saigerungen (Ausscheidungen eines der legierten Metalle in Streifen oder Nestern) und Blasen und wollte daher auch hier nicht auf die Gewaltprobe verzichten.

 

Bereits aus der ältesten Zeit, dem Ende des 14. Jahrhunderts, liegt uns eine authentische Nachricht über das «Beschießen» von Geschützrohren vor, und zwar gibt Essenwein1 eine bezügliche Vorschrift in Faksimile wieder (vergl. die verkleinerte Reproduktion auf S. 72).

 

Es heißt dort: «Eyn nevve puchsen sol man also beschissen. Item lad die püchsen wast wol mit pulu(er) an klotz. Vnd verslach den pumhart vor mit ainem h(ar)ten klotz vnd sag den klotz var der püchsen abe vnd stell den podem vber sich und den pumhart vnder sich auf ain hertt (harte Unterlage) vnd lazz die püchsen sich selb(er) beschissen und weihe püchsen also bestet, die ist sich(er) gut und beleibt wol, man woll dann mutwil treiben.»

 

Allerdings passt die darüber befindliche Zeichnung durchaus nicht zu dieser Beschreibung. Man sieht da ein bis zur Mündung mit Pulver gefülltes Geschützrohr auf einer viereckigen Unterlage aufrecht, also nicht, wie in der Vorschrift gesagt, mit dem Boden nach oben, hingestellt. Ein Mann, der sein Gesicht mit der vorgehaltenen Hand schützt, scheint im Begriff zu sein, das Geschütz mit einer Lunte oder glühendem Eisen abzufeuern. Wenn das Geschütz mit der Mündung nach unten aufgestellt wäre, würde er wohl nicht so nahe herangehen. Das Bild scheint sich also nicht direkt auf den Text zu beziehen.

 

Das in der obigen Vorschrift angegebene Verfahren des Beschießens von Geschützen ist, so merkwürdig es auf den ersten Blick erscheint, doch mit Verständnis den damaligen ballistischen Zuständen angepasst. Man hatte es mit sehr kurzen Rohren zu tun, deren verhältnismäßig große Ladung ungekörnten Pulvers mit dem vorgeschlagenen Holzklotz bereits einen großen Teil der Rohrlänge ausfüllte, das aufgesetzte Geschoss saß nicht mehr weit von der Mündung. Zudem bildete weniger das verhältnismäßig leichte, wenn auch selbst mit Werg etc. festgesetzte Steingeschoss, als vielmehr der festgekeilte Holzpflock den von dem Pulver zu überwindenden Widerstand. Eine gesteigerte Pulverladung wäre bei der trägen Verbrennung des mehlförmigen Pulvers mit dem Holzpflock und dem Geschoss zum Teil unverbrannt herausgeschleudert worden, eine wesentlich schwerere Belastung war bei dem Mangel eiserner Geschosse und bei der Kürze des Rohres untunlich. Man ließ daher das Geschoss ganz fort, nahm eine möglichst große Ladung und verkeilte sie so fest wie möglich mit einem Klotz, den man dann vor der Mündung absägte. Die Belastung des Klotzes gab dann das Rohr selbst, indem man es auf den Kopf stellte. Je schwerfälliger und plumper die Konstruktion, umso größer war hier also auch die Beanspruchung des Rohres bei der Probe, ein Umstand, der in kurzer Zeit die Auffindung einer Konstruktion zur Folge haben musste, deren Gewicht zu ihrer Haltbarkeit das günstigste Verhältnis hatte.

 

In der Tat kann man die aus dem 15. Jahrhundert stammenden Geschützkonstruktionen nicht gerade als plump bezeichnen; berücksichtigt man die durch andere Anforderungen bedingte innere Gestalt, so muss man zugeben, dass das Material, wo irgend möglich, gespart wurde.

 

Die anscheinend gegen Ende des 15. Jahrhunderts begonnene und im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts durchgeführte Verwendung des gekörnten Pulvers auch bei der Artillerie gestaltete, wie überhaupt das Schießen, so auch das Geschützprobieren wesentlich einfacher. Die Verwendung langer Rohre und schwerer eiserner Kugeln neben einem rasch verbrennenden Treibmittel ergab die Möglichkeit, das Geschütz einer beliebigen Beanspruchung zu unterwerfen. Man scheint sich indessen zunächst lediglich auf eine den Verhältnissen des praktischen Gebrauches angepasste Geschützprobe beschränkt und hierbei nicht den vom Pulver zu überwindenden Widerstand durch gleichzeitige Verwendung mehrerer Kugeln vermehrt, sondern nur die Pulverladung erhöht zu haben, denn nur aus dieser konnten bei normalem Gebrauch des Geschützes Gefahren für dessen Haltbarkeit erwachsen.

 

Das Pulver wurde ja zu jener Zeit noch nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten hergestellt, fast jede Pulvermühle arbeitete nach eigenem Rezept, die Kraftentwicklung der Gewichtseinheit dieser verschiedenen Pulversorten musste also sehr verschieden ausfallen. Einen Anhalt für das angedeutete Verfahren bietet eine Inschrift auf dem langen Felde des bekannten, im königlichen Zeughaus zu Berlin befindlichen, aus der Zeit von 1560—80 stammenden Rohres „Die schöne Taube“, in welcher es zum Schluss heißt:

 

«Hans Christoff Loeffler hat mich gossen

Und an der Prob kuglschwer beschossen.»

 

Es dürften die letzten Worte dahin zu verstehen sein, dass eine kugelschwere Pulverladung, also 1:1 Ladungsverhältnis, bei dem Beschuss genommen worden ist. Leider wissen wir nur sehr wenig über die Größe der früher verwandten Ladungsverhältnisse. Zwar ließen sich dieselben annähernd berechnen, wenn man bei gebrauchten Rohren durch Ausleuchten die Lage des meist stark ausgebrannten Kugellagers feststellte, indessen gehören zu derartig schwierigen und zeitraubenden Untersuchungen besondere Einrichtungen und Messinstrumente. Man darf aber annehmen, dass bei der noch immer ziemlich primitiven Bereitung des Pulvers und einer demzufolge geringeren Kraftäußerung desselben das normale Ladungsverhältnis größer gewesen ist, wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wo dasselbe bei Kanonen etwa ein Viertel war. Es erscheint daher ein Ladungsverhältnis von 1:1 beim Anschießen der Rohre im 16. Jahrhundert zweckentsprechend.

 

Zum Anschießen von Wurfgeschützen mit Kammer wählte man die kammervolle Ladung, welche späterhin als «Probier-Ladung» auf der Mundfläche des Geschützes vermerkt wurde.

 

Diese Art des Anschießens hat sich die folgenden Jahrhunderte hindurch erhalten. Man schoss mit erhöhter Ladung und verwendete wohl auch hier und da mehrere Kugeln gleichzeitig, um den Gasdruck im Rohr zu verändern. Einen recht interessanten Beitrag hierzu liefert eine Anschießverhandlung vom Jahr 1816, deren Entwurf sich unter alten Papieren gefunden hat. Das Schriftstück möge hier folgen:

 

Actum Spandau, den .. . ten.1816. Zu Folge einer Verfügung des Hochlöblich Ersten Departements im Königlichen Krieges Ministern vom .... ten dieses versammelte sich heute die von dem Artillerie-Offizier des Platzes Major Gause angeordnete Kommission in dem im bedeckten Wege des Ravelin No. I befindlichen Blockhause No. 3, um die hier befindlichen, unlaffetierten 3 einpfündigen, No. 3, 5 und 10 und 3 eineinhalb-pfündigen, No. 3, 10 und 12 (alle eisernen Kanonenrohre) nach der von Seiten Eines Hohen Ersten Departements erteilten Instruktion zu probieren.

 

Die Geschützrohre waren des Tages vorher nach gedachtem Blockhause gebracht und auf einer der darin befindlichen Bettung ein schlittenähnliches Gestell erbaut worden. Nachdem das zum Probieren Erforderliche alles in Bereitschaft gesetzt, die jedesmalige Ladung in Gegenwart der Kommission abgewogen und die Kugeln geleert worden, wurde mit dem Probeschießen der Anfang gemacht. Aus jedem Rohr geschahen vier Probeschuss, und zwar bei den einpfündigen mit zweidrittel Pfund und bei den eineinhalb-pfündigen mit ein Pfund Ladung, die beiden ersten Schuss geschahen mit zwei, die beiden letzten Schuss aber mit einer Kugel. Sowohl auf die Ladung als auch auf die Kugel wurde ein Vorschlag von Heu gesetzt und durch 4 starke Stöße angedrückt. Die Kartuschbeutel waren aus Papier und ohne Spiegel, die Entzündung geschah durch blecherne Schlagröhren vermittelst aufgebundener Zünder.

 

Das Probeschießen fiel ganz zur Zufriedenheit der Kommission aus und man bemerkte dabei an den Röhren durchaus keine Fehler. Die Geschütze wurden demnächst aus dem Blockhaus ins Freie gebracht, rein ausgewaschen und dann wieder in das Blockhaus retour geführt, aufrecht gestellt, die Zündlöcher verstopft und die Seelen mit Wasser gefüllt, um solches 24 Stunden darin stehen zu lassen.

 

Nachdem das Blockhaus gehörig verschlossen, wurde dies Protokoll für heute geschlossen und von den Mitgliedern der Kommission unterschrieben, Actum Spandau, den . . . ten.1816.

                                                                                                   a                                                                                    b

                                                                            Von Seiten der Artillerie.                            Von Seiten des Zeugwesens.

 

Es versammelte sich heute abermals die zum Probieren der vorgedachten eisernen Canon-Röhre angeordnete Kommission in dem vor Ravelin Nr. 1 belegenen Blockhaus Nr. 3, um des Tags vorher der Schussprobe unterworfenen Piecen, welche nach Beendigung derselben mit Wasser gefüllt worden waren, abermals zu untersuchen und zu sehen, wie die Wasserprobe ausgefallen war.

 

Nach der genauesten Besichtigung gedachter Geschützrohre fanden sich indes nirgends Spuren von durchgedrungenem Wasser und wurden hierauf die Röhre von dem Wasser entledigt, ganz rein ausgetrocknet und noch einmal mit aller Vorsicht und Genauigkeit, sowohl außerhalb, als besonders in der Seele besichtigt und nach den bekannten Vorschriften untersucht. Da indes keine Fehler zu bemerken waren, so trug die Kommission kein Bedenken, die sämtlichen probierten Geschützrohre als vollkommen gut und brauchbar zu erklären, worauf solche wieder nach der Festung zurückgebracht wurden.

 

Da sich nichts Weiteres zu erinnern vorfand, wurde die Kommission hiermit beendigt, dies Protokoll geschlossen und von den Mitgliedern der Kommission unterschrieben.“

                                                                                                  a                                                                                    b

                                                                            Von Seiten der Artillerie.                            Von Seiten des Zeugwesens.

 

Es hat hier eine Steigerung des Ladungsverhältnisses zum Probieren auf zweidrittel stattgefunden, und zwar wurde die Höhe des Gasdrucks durch Verwendung von 2 bzw. 1 Kugel verändert. Interessant ist die angewandte, noch in den 50er Jahren vorgeschriebene Wasserprobe.2 Offenbar glaubte man, es werde aus etwaigen, durch die erhöhte Beanspruchung entstandenen Rissen Wasser herauslaufen, eine Annahme, die heute umso merkwürdiger erscheint, als man es nicht für nötig hielt, das eingeführte Wasser unter Druck zu setzen.

 

Man ist sich überhaupt erst in neuerer Zeit nach den theoretischen Untersuchungen von Winckler darüber klar geworden, in welcher Weise die Zerstörung eines Rohres vor sich geht. Erfolgt ein Druck auf einen ebenen, flächenförmigen Körper, so wird derselbe, entsprechend seiner Elastizität, zusammengedrückt, bzw. wenn die Grenze dieser Elastizität überschritten ist, unter Deformierung oder Trennung seiner Oberfläche dauernd verändert. Dasselbe ist der Fall im Innern eines Rohres, hier ist aber der Druck von der Seelenachse aus radial nach allen Seiten hin zu denken. Durch das elastische Ausweichen des Materials in radialer Richtung nun müssen sich die einzelnen Teilchen zunächst der Seelenwand wegen des in sich geschlossenen kreisförmigen Querschnittes des Rohres auch in tangentialer Richtung voneinander entfernen, sodass eine Beanspruchung in zweifachem Sinne entsteht, zu der noch ein allerdings weniger erheblicher Zug in der Längsrichtung des Rohres tritt.

 

Es muss also in diesem Fall die natürliche Grenze der Festigkeit des Materials früher erreicht werden, und in der Tat ergibt die theoretische Betrachtung, dass bei einem aus einem Stück hergestellten Rohr nur dreiviertel der natürlichen Metallfestigkeit ausgenutzt werden können.3 Wird diese Grenze beim Probeschießen mit erhöhter Ladung um Weniges überschritten, so bilden sich, mag die Metalldicke auch noch so groß sein, in der Seelenwand feine Risse vn zunächst nur geringer Tiefe, die sich aber bei fortgesetzter, wenn auch geringerer Beanspruchung immer mehr vertiefen und so sicher zu einer Zerstörung des Rohres führen. Diese gefährlichen Risse konnten bei der geschilderten Art der Geschützprobe auch durch die Wasserprobe nicht erkannt werden, es lag also in diesem Verfahren nicht nur keine Gewähr, sondern eher eine Gefahr für die Haltbarkeit der Rohre.

 

Die angedeuteten theoretischen Betrachtungen im Verein mit der von Rodman und Uchatius bewiesenen Möglichkeit, den Gasdruck in jedem Teil des Rohres zu messen, und den großartigen Fortschritten auf dem Gebiet der Metalltechnik und der Festigkeitslehre führten zu Geschützkonstruktionen, welche, auf rationellen Berechnungen fußend, in sich die Gewähr der Haltbarkeit gegenüber der ihnen zugrunde gelegten Beanspruchung bieten. Wenn trotzdem jedes neu gefertigte Rohr heute noch einer Schussprobe mit normaler Ladung unterworfen wird, so geschieht dies lediglich, um das richtige Funktionieren der Verschlüsse und Liderungen zu prüfen.

 

1 Essenwein, Quellen zur Geschichte der Feuerwaffen, Blatt A. 1.

2 Vergl. Oelze, Lehrbuch der Artillerie für preußische Avancierte dieser Waffe. Berlin 1856.

3 Näheres hierüber findet man in: G. Kaiser, Die Konstruktion gezogener Geschützrohre. Wien 1900.

 

Quelle: Zeitschrift für Historische Waffenkunde. Organ des Vereins für historische Waffenkunde. II. Band. Heft 3. Dresden, 1900-1902.