· 

Ausführliches Gerichtsgutachten über einen Mörder von 1860

Heute wollen wir Euch einen längeren Untersuchungsbericht über einen Mordfall aus dem Jahr 1860 aus einer unbekannten Stadt in Deutschland vorstellen, der um einen "Hexenwahn" handelt. Der "Angeschuldigte" hat seine Tat mit bösen Verhexungen seinerseits durch eine ältere Frau erklärt, die er erwürgte und die Treppe hinunterwarf.

 

Das folgende medizinische Gutachten geht sehr detailreich an diesen Fall heran. Bemerkenswert ist zudem, dass die polizeilichen Untersuchungen sehr gewissenhaft und mit mehreren Zeugenbefragungen stattgefunden hat. Ein erstes medizinisches Gutachten über den Angeklagten wies der urteilende Richter ab. Dieses sogenannte "Obergutachten" gibt daher noch einmal alle vorhandene Standpunkte wieder.


Auch wenn es viel Text für einen Internetblogbeitrag ist, so gibt dieses Gutachten einen sehr guten Einblick in den Stand der damaligen Forschung über Geisteskrankheiten wieder. Viel Spaß bei der Lektüre.

 


Der Hexenwahn
Obergutachten der medizinischen Facultät in Berlin
Erster Referent: Casper



"Am 6. November 1860 wurde die Witwe S. im Haus des Angeschuldigten mit unzweifelhaften Spuren einer gewaltsamen Tötung entseelt aufgefunden. Der Verdacht einer absichtlichen Tötung lenkte sich sogleich auf die angeschuldigten Eheleute, namentlich auf den Ehemann, den 45 Jahre alten Zimmermann R., der auch alsbald im ersten gerichtlichen Verhör nach seiner, noch weiter zu beleuchtenden Art und Weise, ein halbes Geständnis seiner Täterschaft ablegte. Er sei, deponierte er, durch die unausgesetzten Zauberkünste der Witwe S. krankgemacht worden, habe ganz fürchterlich aushalten müssen, Stiche im Herzen gehabt und sei taumlig und ohnmächtig geworden. Die Ärzte hätten ihm gesagt, sein Blut sei durch die Sympathien der S. ganz verdorben und in Schaum verwandelt. Nachdem er durch Sympathie geheilt worden, habe die S. aus ihrer gegenüberliegenden Wohnung ihm immer starr angesehen und darauf sei er wieder krank geworden. Er habe seine Frau dann veranlasst, beim Gericht Hilfe gegen die bösen Künste der S. nachzusuchen. Dies sei aber nicht gelungen und nun sei es ihm klargeworden, dass er nicht ruhe bekommen werde, als bis die S. aus der Welt wäre, wobei es ihm jedoch nicht eingefallen sei, dass er sie aus der Welt schaffen wolle.


Kurze Zeit vor der Tat sei ihm wieder so schlimm geworden, dass er sein Ende nahe geglaubt, weshalb er seine Frau beauftragte, der S., um sie zu versöhnen und damit sie von ihren Zaubereien ablasse, einen Korb mit Äpfeln anzubieten. Zwei Tage später besuchte ihn die S. Im Gespräch mit ihr habe er plötzlich seine Schmerzen in der Herzgegend und den Schwindel im höchsten Grade wiederbekommen. In der Aufregung und höchsten Gereiztheit sei er ihr, nachdem sie sich aus dem Zimmer entfernt habe, nachgegangen und habe sie "in seiner Wut nicht sachte bei der Kehle gepackt und hingeworfen". Wir bemerken hier, dass die Sachverständigen an der Leiche der S. Erwürgungsspuren und als Todesursache einen Bruch "zwischen dem 5. und 6. Halswirbel vorgefunden haben.


Ganz anders äußert sich der Angeschuldigte im zweiten Verhör am 18. November. Am Tage vor dem Tode der S., sagt er, habe er gegen seine Frau geäußert, es werde ihm nichts anderes übrigbleiben, wenn ihm noch geholfen werden sollte, als der S. das Leben zu nehmen, was ihm seine Frau ausredet. Am folgendem Tag seien seine Schmerzen wieder so arg geworden, dass seine Frau die S. geholt habe, um Versuche zu machen, ihren bösen Willen zu beschwichtigen. Er schilderte nun, abweichend von seiner früheren Deposition [Aussage], dass bei der Unterredung mit der S. über ihre Zauberkünste und ihren früher gegen ihn verübten Diebstahl ihn "die Wut erfasst", und er sie an den Schultern gefasst und unter Schütteln zur Rede gestellt habe. Nicht aber habe er sie am Hals gefasst und die Treppe hinuntergeworfen. Vielmehr sei es seine Ehefrau gewesen, welche die S. im Hausflur erwürgt, ihr den Hals abgedreht und sie dann die Treppe hinabgeworfen habe, damit sie sagen könne, dass der Fall von der Treppe die S. getötet habe.


Am 24. Dezember erklärt Inculpat [Angeklagter] wieder, er habe die S. umgebracht, sie erwürgt und hingeworfen, nimmt aber schon an demselben Tag dieses Geständnis wieder zurück, mit der Äußerung, dass er am Gehirn leide. Alsbald aber räumt er nach gehörigem Vorhalt die Täterschaft wieder ein, während er drei Tage später wieder alles zurücknimmt. Immer aber die Angaben von den Zauberkünsten der S. festhaltend. Ein gleiches Verfahren hat R. fortgesetzt und bis zum jetzigen Stadium der Untersuchung in den ungemein zahlreichen Verhören beobachtet. Es würde überflüssig sein, dies durch alle diese Verhöre hier zu verfolgen und wollen wir als charakteristisch nur hervorheben, dass es vorgekommen, dass er in einem und demselben Verhör bekannt, widerrufen und abermals bekannt und widerrufen hat.


Auf Vorhalten dieses ganz ungewöhnlichen Benehmens bezog er sich wiederholt auf seinen "Gram, Schmerzen, Empfindungen und Angst" als Entschuldigung und Entlastung. Dem entsprechend ist auch ein anderes Geständnis, dahingehend, dass er die von ihm begangene Tat nicht als ein strafbares Verbrechen betrachtet habe. Er sei nur seines Lebens vor den Zauberflüchen nicht sicher gewesen und habe sich schützen müssen. Doch hat er später eingeräumt, dass er nach der Tat gewusst, dass dieselbe bestraft werden könne und wiederholt gegen seine Frau den Wunsch ausgesprochen, dass die Tat ungeschehen geblieben sein möchte.


Was den körperlichen und Gemütszustand des Angeschuldigten betrifft, so liegen darüber zahlreiche Depositionen [Aussagen] in den Akten vor. Der Untersuchungsrichter registriert, dass von demselben in allen Verhören zusammenhängende Antworten stets nur halb murmelnd abgegeben habe und dass er hin und her spreche. Nachdem er schon zehn Wochen in Haft gewesen, erklärte R., die Zauberkünste der S. seien immer noch nicht zu Ende und wahrscheinlich übe sie jetzt nach ihrem Tode jemand aus ihrer Familie aus, weshalb er auch immer Amulette an sich trage. - dergleichen wirklich später eine bei ihm am Leibe gefunden worden.


Ein anderes Mal bat er den Richter, ihm die Anwendung von Sympathie zu gestatten. Auch der Gefangenenwärter bestätigt diesen bei ihm fortdauernden Glauben, der ihm gar nicht auszureden sei. Ein andermal äußerte R. seine Überzeugung, dass seine Frau tot sei, denn er habe über seinem Gefängnis, wo seine Frau sitze, nachts einen schweren Fall und ein heftiges Geschrei gehört. Es saß aber damals niemand in der Gefängniszelle über ihn.


Seine Ehefrau deponiert [sagt], dass er bereits seit sechs Jahren sehr krank gewesen, sodass er nachts oft keine Viertelstunde habe schlafen können und sie bestätigt alles, was ihr Mann über die Zauberkünste der S. gerichtlich ausgesagt hatte. Auch seine Schwester erklärte von dieser Überzeugung des Angeschuldigten Kenntnis gehabt zu haben, die in ihm umso fester gewurzelt habe, als seine Frau und ganze Familie sie geteilt gehabt, ja in ganz F. man ziemlich allgemein der Stadt S. dergleichen Kunststücke zugetraut hatte. Wiederholt, zuletzt noch 8 Tage vor der Tat, hatte er diese seine Schwester gebeten, bei dem Bürgermeister eine Gefängnisstrafe gegen die S. zu beantragen, wovon er sich Hilfe gegen sein Leiden versprach. Viele andere Zeugen bestätigen übereinstimmend, wie überzeugt der Angeschuldigte und auch seine Ehefrau von der Verhexung durch die S. gewesen sei. Des Pastors M. Ermahnungen, diesen Aberglauben fahren zu lassen, waren vergebens. Wenige Tage vor dem Tode der S. hat dieser Zeuge den Angeschuldigten krank, bettlägerig und jammernd darüber angetroffen, dass jetzt auch sein Kind an derselben Krankheit leide und dass er seine Qualen nicht länger ertragen könne.


Wichtig sind die Depositionen der behandelnden Ärzte, zunächst des Dr. G., der beide Eheleute seit Jahren gekannt und ärztlich behandelt hat, die er für rechtschaffen und fleißig hält. Vor anderthalb Jahren (vor der Tat) litt der Angeschuldigte an Beklemmungen, Verängstigungen, Kongestionen nach der Brust. Ein Zustand, den ein zweiter behandelnder Arzt "Hypochondrie" nennt, welche Dr. R. und Dr. J. teilt, der den R. zwei Jahre vor der Tat mit abdominellen Leiden, geschwollener Milz, Nachtschweißen und einer Neigung zur Melancholie gefunden hat.


Der Charakter des Angeschuldigten wird von allen vernommenen Zeugen, namentlich in Beziehung auf die Sittlichkeit, nichts weniger als ungünstig geschildert. Sein Schwager hält ihn für einen sonst braven, aber feigen Menschen, der nicht dabei sein möge, wenn ein Schwein geschlachtet wird. Eine Schwägerin hält beide R´sche Eheleute für brave, rechtschaffene Menschen, die sie nicht für fähig hält, gewalttätige Handlungen gegen einen Menschen zu unternehmen. Sein ehemaliger Meister charakterisiert ihn als einen friedliebenden, dabei feigen Menschen, dem er übrigens nur ein günstiges Zeugnis geben könne, welches Urteil ein anderer Meister teilt. Dem Pastor M machte R., den er sittlich nennt, den Eindruck größerer geistiger Beschränktheit, als die Ehefrau. er bezeichnet ihn als sichtlich schlaff, energielos, träge und ganz unter der Herrschaft seines körperlichen Leidens stehend.

 

Schließlich erwähnen wir das Urteil des interimistischen Physikus Dr. K. und dessen ausführlich und gründlich motiviertes Gutachten vom 14. Dezember 1860, welches der Ankläger angefochten und dadurch Veranlassung zur Einholung dieses unseres Obergutachtens gegeben hat. Dr. K. schildert Inculpaten als einen großen mageren Mann, von starkem Knochenbau, fahler Gesichtsfarbe, mattem düsteren Blick, trauriger Miene, schlechter, gebückter Haltung und schleppendem Gang. Die Hände hält er fortwährend vor den Leib, über den er beständig klagt. er unterbricht seine langsamen Antworten durch häufiges Stöhnen und Bewegungen des Schmerzes. Häufig treten Kongestionen zu Kopf und Brust ein. Ein Herzfehler ist nicht, wohl aber tuberkulöse Entartung der Lungen vorhanden. Doch ist bei alledem sein Organismus noch nicht so zerrüttet, wie er als Hypochonder glaubt und kommt "der größte Teil seiner vermeintlichen Leiden auf Rechnung der mit Melancholie verbundenen Hypochondrie".

 

Hiernach und nach den Resultaten seiner vielfachen Besuche bei dem R., bei welchem wiederholt diese ewigen Klagen, so wie die Beschwerden über die oft genannten Zauberkünste, die Bitte um Freilassung, um Gewährung von sympathetischen Kuren und dergleichen zum Vorschein kamen, entwickelt Dr. R. der Sache und der ärztlichen Erfahrung gemäß sein Urteil, das er schließlich dahin formuliert: "dass des R. Geistes- und Gemütsleiden, die Melancholie, mit seinem körperlichen Krankheitszustand, der Hypochondrie, in engster Verbindung stehe und mit der Zunahme der letzteren eine solche Höhe erreicht hat, auf welcher der Kranke für Handlungen, welche aus einer durch die Melancholie erzeugten fixen Idee entspringen, nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann." - Es liegt uns nun nach dem oben gedachten Requisitionsschreiben ob, zu prüfen, in wie weit das Urteil des Dr. R. für begründet zu erachten, dem wir am zweckmäßigsten zu genügen vermeinen, wenn wir im nachfolgenden unser eigenes wohlerwogenes Gutachten erstatten.


Der vorliegende Fall gehört zu den so wenig seltenen, dass, wenn der Verteidiger aus der Literatur zwei Analoga dafür beigebracht hat, wir unsererseits aus unserer eigenen, wie aus der allgemeinen wissenschaftlichen Erfahrung vielmehr eine ganze Reihe durchaus ähnlicher mitteilen könnten, wenn es dessen bedürfe. Bei so zahlreichen Beobachtungen hat sich denn auch die Zurechnungslehre, wenn auch die rein theoretisch wissenschaftliche Deutung nach den verschiedenen psychologischen Systemen eine verschiedene ist, worauf es hier nicht ankommt. Die Angriffe, welche der Untersuchungsrichter gegen das Physitats-Gutachten gerichtet hat, haben worauf wir zunächst als auf den Ausgangspunkt unserer Beurteilung aufmerksam machen müssen, so weit nicht gehen können, zu bestreiten, was vier ärztliche Berichte konstatiert haben, dass R. ein tiefkörperlich erkrankter Mensch ist und bereits seit langer Zeit gewesen ist. Wir haben soeben das Bild des fahlen, matt, gebückt einher schleichenden, mit häufigen Kongestionen zu Brust und Kopf, Beklemmungen, Verängstigungen, Milzanschwellung, "abdominellen Leiden", außerdem noch mit Lungentuberkulose behafteten Angeschuldigten, nach den Akten wiedergegeben, die in ihrem Zusammenhang eine so klare Darstellung des bedeutenden und allen Ärzten wohlbekannten Krankheitszustandes liefern, dass sogar der gewissenhafteste Arzt nach einer bloßen derartigen Relation und aus der Ferne kaum anstehen würde, erforderlichen Falls ein allgemeines Heilverfahren für den betreffenden Kranken auszuordnen.

 

Die alte, auch von den hier beteiligten Ärzten gebrauchte Krankheitsbenennung: "materielle Hypochondrie" bezeichnet diesen Zustand allgemein verständlich. Ebenso allgemein ist den Ärzten auch die Rückwirkung bekannt, welche dieser Krankheitszustand in den verschiedensten Abstufungen auf das geistige Leben solcher Kranken ausübt. Die allergewöhnlichste und gering ist noch die, dass sie, reizbar und erregt geworden, ihre wirklichen krankhaften Empfindungen übertreiben und überschätzen und eine Qual für sich und andere werden, jeden Augenblick zu sterben wähnen usw. Wie sehr dies R.´s Fall ist, der auch sein Blut in Schaum und Unrat verwandelt glaubt und unaufhörlich äußert, dass er seine Qualen nicht ertragen könne, ist eben angeführt. Eine Charaktereigentümlichkeit, die aus solchem Zustand, der schon einen gewissen Grad von geistig-krankhafter Verstimmung darstellt, notwendig und sehr erklärlich folgt und sie man täglich bei derartigen Kranken wiederfindet, ist ein oft rücksichtsloser Egoismus, der die Behaglichkeit des eigenen Lebens und jedes Augenblicks, soweit sie das körperliche Wohlbefinden befördern kann, allen anderen Rücksichten voranstellt.

 

Wenn der Untersuchungsrichter in seiner psychologischen Beurteilung des Angeschuldigten bei Erwähnung von Tatsachen, wie die, dass R. bei der "herzergreifenden Szene" der Konfrontation mit seiner Ehefrau auf Verbesserung seiner Gefängniskost durch Weißbrot usw. überspringt, zu dem Ausspruch kommt, dass er "ein berechnender, kalter, gefühlsloser Egoist sei, der nur Ekel und Verachtung verdiene", so würde derselbe als Arzt zweifellos, durch Erfahrung belehrt, ein weniger hartes Urteil gefällt und dem Verlangen nach Weißbrot usw. eine ganz andere Deutung gegeben haben, abgesehen davon, dass solche Äußerungen des Inculpaten noch einen ganz anderen Schluss bedingen, worauf wir noch zurückkommen. Allseitig wird R. "feige" genannt. Es geht aus den Akten hervor, dass derselbe wahrscheinlich von je an diesen Charakter gezeigt habe. Gewiss aber ist, dass die Depression des Nervensystems, die sich bei Hypochondristen mit eingewurzelter abdominellen Leiden, wie Angeschuldigter, stets einstellt, auch einen mutigen festen Charakter niederdrückt und umso mehr einen von Hause aus schwächeren Menschen zum Feigling stempelt.

 

Eben dieser Mangel an Energie, diese Unmöglichkeit, sich zusammenzuraffen und der peinigenden Körperempfindungen wenigstens einigermaßen Meister zu werden, dieses feige Insichversinken macht dergleichen Kranke so unglücklich und treibt sie so häufig zum feigen Selbstmord. R. wählte einen anderen Ausweg. Er, der Feige, von dem gesagt wird, dass er kein Schwein schlachten sehen kann, erschlägt einen Menschen. Aber mehr! Er, der allseitig als "brav und sittlich" geschildert wird, begeht auf anscheinend rohe und gefühllose Weise eine Tötung, eine Tat, zu welcher man sich gewiss, wie auch mehrere Zeugen richtig bekundet haben, bei einem solchen Menschen nicht "vorsehen" konnte. Hier aber zeigt sich eine psychologische anscheinende Lücke, die einzig und allein nur ausgefüllt werden kann durch die Annahme einer wirklichen Geisteskrankheit, die Beherrscherin wurde des ganzen Tuns und Trachtens des Menschen. Wir brauchen aber eine solche Krankheit nicht etwa bloß vorauszusetzen. Erfahrung und die vorliegenden Akten über den konkreten Fall geben die sichersten Beweise für das tatsächliche Vorhandensein derselben. Jene oben bereits erwähnte krankhafte Verstimmung der erheblicher abdominell Erkrankten steigert sich häufig genug bei längerer Fortdauer der Hypochondrie und weiterer Steigerung der körperlichen Krankheit zu wirklicher Geistesstörung, zum fixen, zum allgemeinen, zum Schwermutwahn.

 

Die "Präcordialangst", wie man gut bezeichnend sagt, gibt zuletzt oft dem Kranken die Überzeugung, dass seine vermeintlich ganz unerhörten und widernatürlichen körperlichen Qualen nur ebenso unerhörten widernatürlichen körperlichen Ursachen ihre Entstehung verdanken könnten. Es bildet sich mehr und mehr in ihnen die Überzeugung aus, dass sie Schlangen und dergleichen in ihrem Leib beherbergen. Andere, und welcher erfahrene Irren- und Gerichtsarzt kennt nicht vielfache derartige Kranke, vermeinen durch fortdauernde geheime magnetische oder elektrische Einwirkungen von unsichtbarer Hand in den belästigenden Zustand versetzt zu sein und darin erhalten zu werden. Dass dies gerade R.´s Fall, der die weiter von ihm nicht näher charakteristischen "Zauberkünste" der S. als einzige Veranlassung seiner körperlichen Leiden ansieht, wovon ihn die wiederholten Vorhaltungen seiner Ärzte nicht abzubringen vermögen, ist oft erwähnt. Von diesem wahngläubigen Standpunkt aus ist es als eine gewisse Logik anzuerkennen, wie sie häufig genug in ähnlichen Fällen beobachtet wird, wenn derselbe nach dem aktenmäßig erwiesenen längeren Kampf mit sich endlich zu der Überzeugung gelangt, nachdem die Kuren der besagten Quacksalber ihm so wenig Erleichterung verschafft hatten, als die von vier konsultierten Ärzten, dass nur allein mit dem Aufhören der krankmachenden Ursache die Wirkung aufhören werde, in welcher Überzeugung er die Tötung der S. beschließt.

 

Hiernach verliert auch der Einwand seinen Wert, dass die Tat der psychologischen Unterlage, einer causa facinoris, nicht ermangele. Ein Einwand, den wir an sich als von hohem Wert in allen Fällen von zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit erachten, da, wie gesagt, diese Tat lediglich aus Hass und Rachsucht gegen die Feindin, um endlich sich Ruhe vor ihr zu verschaffen, entsprungen und ausgeführt worden. Denn wie in so vielen ähnlichen Fällen, so war auch hier das Motiv zur Tat an und für sich ja ein irrsinniges und R.´s Logik eines Wahnsinnigen.

 

Der Herr Untersuchungsrichter erhebt sich gegen diese Ansicht in seiner Kritik des ähnlich ausführenden "Physicats-Gutachtens". "Wenn", sagt derselbe, "die Verblendung R´s wegen der Zauberkünste der S. seinen Verstand getrübt haben sollte, so müsste dasselbe auch von seiner Ehefrau gelten, die mit demselben Wahn befangen war". Aber, abgesehen davon, dass es nicht unsere Aufgabe ist, den Gemütszustand der Mitangeschuldigten zu prüfen, dessen Beschaffenheit wir dahingestellt sein lassen, so ist dich der wesentliche Unterschied zwischen beiden Eheleuten nicht zu verkennen. Die Frau war und ist nicht tief und körperlich krank, wie der angeschuldigte Mann und es wird nirgends von ihr ausgesagt wie von Letzterem, dass sie an Sinnestäuschungen, sogenannten Halluzinationen, gelitten habe, wie dieser. Wenn R. im Gefängnis in der, wie nachgewiesen, ganz unbewohnten Zelle über sich, seine Frau heftig schreien und niederstürzen hört und sie deshalb gestorben wähnt, so beweist er damit, dass er Halluzinationen hat. Ein neuer und schlagender Beweis für das Vorhandensein wirklichen Wahnsinns bei ihm. Je länger derselbe andauert, desto tiefer wurzelt er in ihm und es ist erfahrungsgemäß nicht zu verwundern, wenn R., nachdem die vermeintliche Urheberin seiner Leiden beseitigt, diese selbst natürlich ihn nun aber doch nicht verlassen haben, jetzt die Verwandten der Feindin beschuldigt, jene Zauberkünste noch immer fortzusetzen.

 

Ist nach alle diesem für uns das Bestehen einer wahnsinnigen Geistesverwirrung bei dem Angeschuldigten zweifellos, so ist auch damit die, hier schon oben berührte psychologische Lücke ausgefüllt, die der Vergleich des Charakters R´s, wie ihn übereinstimmend alle Zeugen schildern, mit der angeschuldigten Tat darbietet. Wenn es schon selten vorkommt, dass sittliche Menschen - und als solcher galt der Angeschuldigte allgemein - im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte urplötzlich durch irgendeine psychologische Veranlassung zu gesetzwidrigen Handlungen hingerissen werden, so war dies bei Inculpaten gewiss nicht der Fall, der vielmehr lange genug mit sich und seiner Frau über die Tat zu Rate gegangen ist. Die Rechtlichkeit und Sittlichkeit seines Charakters im Allgemeinen steht außer Frage. Ebenso aber auch die Täterschaft und das Entsetzliche seiner Tat. Diese trägt sonach ganz unzweifelhaft den Stempel der in seinem Gemüt ganz isoliert dastehenden Tat, d.h. einer Tat, zu der niemand bei einem soliden Menschen von Haus aus sich hätte "versehen" können. Ein Moment, auf welches mit Recht zu allen Zeiten der höchste Wert für die Verurteilung der Zurechnungsfähigkeit von Individuen mit zweifelhafter Gemütsverfassung zur Zeit des Begehens gesetzwidriger Handlungen gelegt worden.


Wir können uns indes, so sehr schon das Bisherige die Frage zu erschöpfen scheint, der Prüfung einiger, von dem Untersuchungsrichter wie von der Anklage anscheinend mit Recht erhobenen Bedenken nicht entziehen. Wir meinen den Einwand, dass die "Vernunft und Überlegung, welche Inculpat in mehrfacher Weise gezeigt, die Annahme seiner Imputabilität [moralische und juristische Zurechnungsfähigkeit] rechtfertige, dass derselbe aktenmäßig mit dem klaren Bewusstsein seiner Straffälligkeit gehandelt habe", wie dies namentlich auch der wiederholte Widerruf seiner Täterschaft einräumenden Geständnisse beweisen soll. Die "Überlegung" aber haben wir bereits oben ausreichend gewürdigt, indem wir die Genesis des Entschlusses zur Tat dargelegt und den krankhaften Boden gezeigt haben, auf welchem diese Überlegung hervorgewachsen war.


Wieder müssen wir hierbei auf den sichersten Leitstern bei diesen Untersuchungen, auf die kriminal-psychologische Erfahrung verweisen, die es in ungemein vielen Fällen nachgewiesen hat, dass auch in der tiefsten Gemütszerrüttung des Wahnsinns, namentlich in der hier vorliegenden Form des Schwermutwahns, die Kranken in mehr oder weniger ungestörtem Kombinationsvermögen sehr wohl im Stande sind, den Plan, zu welchem sie durch ihre Wahnvorstellungen gelangt sind, und über welchem sie unausgesetzt brüten, mit den zweckmäßigen Mitteln auszuführen, oft genug sogar mit Aufwand von List und Verschlagenheit, wie es nicht einmal in dem Maße bei R. der Fall gewesen, der endlich, allerdings nach längerer "Überlegung", plötzlich weil ihn, wie sagte, die Wut erfasst, zur Tat schreitet.


Dieselbe Erfahrung aber belehrt uns im Betreff des "Bewusstseins der Straffälligkeit". Das Unterscheidungsvermögen, die Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Gut und Böse wurzelt so tief im Menschen und ist so unabhängig von dem Bereich der bloßen Intelligenz, dass diese Erkenntnis auch bei der weit vorgeschrittensten Verwirrung und Zerrüttung keineswegs immer verloren geht, mit ihr natürlich denn auch nicht das, oft allerdings nur noch unklar empfundene Bewusstsein der Straffälligkeit der unsittlichen Tat. Und geht diese Erkenntnis vielmehr erst ganz und vollkommen bei geistigen Zuständen verloren, die eine völlige Negation aller geistigen Vermögen bedingen, z.B. im echten Blödsinn, um Anfall des Tobsuchtswahns. Darum hat man oft genug auch andere geisteskranke Übeltäter, als R. die ausgeführte gesetzwidrige Tat noch leugnen oder entschuldigen und beschönigen gesehen und des Angeschuldigten desfallsiges Benehmen ist in keiner Weise auffallend. Was nun aber dies Benehmen insbesondere in Beziehung auf seine Geständnisse vor dem Richter betrifft, so ist die Art und Weise, wie er gerade diese Geständnisse abgelegt hat, ihrerseits für uns ein neuer Beweis der krankhaften Verdunkelung und Verwirrung seines Geistes. Nichts allerdings ist häufiger vorkommend bei zurechnungsfähigen Verbrechern sowohl wie bei geisteskranken Gesetzesübertretern, als ein Widerrufen einmal abgelegter Bekenntnisse der Täterschaft. Es ist auch wohl vorgekommen, dass ein solcher Widerruf in längerer Voruntersuchung zurückgenommen und ein abermaliges Bekenntnis abgelegt wurde. Wir glauben aber mit Sicherheit behaupten zu dürfen, dass ein so ganz zweckloses Spiel mit Bekenntnis und Widerruf, wie es diese Akten ausweisen, in welchen dargetan, dass der Angeschuldigte sogar in denselben Verhören gestanden und geleugnet und dann wieder bekannt und abermals widerrufen hat, dass ein solches Verfahren eines Angeschuldigten, zumal eines etwa nicht geistesgestörten Menschen, ohne analoges Beispiel dasteht.


So vereinigt sich alles, was wir im Vorstehenden beleuchtet haben. Körperlicher Gesundheitszustand, Charakter, Benehmen nach der Tat und allgemeines geistiges Gebrechen des Angeschuldigten, um das Urteil zu rechtfertigen, das wir schließlich mit Bezug auf obige Ausführungen dahin abgeben: dass der Angeschuldigte, Zimmermann R. aus F., sowohl vor der Tötung der Witwe S., wie jetzt, von Schwermutswahnsinn befallen und für zurechnungsfähig nicht zu erachten gewesen und es auch gegenwärtig nicht ist."


Berlin, den 13. Februar 1863


Die medicinische Facultät der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität


Quelle: Hygea - Populäre medizinische Zeitung
zur Belehrung und Unterhaltung für Gebildete beiderlei Geschlechts insbesondere den Geistlichen, Lehrern und Erziehern gewidmet.


Siebenter Jahrgang


Münster, den 1. April 1863

Ausführliches Gerichtsgutachten über einen Mörder des 19. Jahrhunderts

Weitere interessante Blogartikel:



Kommentar schreiben

Kommentare: 0