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Blutrache und Selbstjustiz sowie Sühne und Vergebung

Blutrache, Selbstjustiz und Sühneverfahren des Mittelalters
Symbolbild der Blutrache

Heute behandeln wir das spannende wie sehr menschliche Kapitel der blutigen Rache an unserem Nächsten. In der Antike und im Mittelalter war sie sehr weit verbreitet und konnte auch lange Zeit aufgrund des schwachen staatlichen Gewaltmonopols in Teilen Deutschlands bestehen bleiben. Daraus entwickelte sich eine Art Gesetz im Umgang der Blutrache, die nicht verboten werden konnte und daher Regeln brauchte, um die familiären Fehden nicht ausarten zu lassen. Ein "gesühnter" Mord an einem Familienmitglied brachte meistens nachfolgende Vergeltungsmorde nach sich, was eine generationsübergreifende Fehde nach sich zog und eigentlich nur durch die staatliche Ordnung des Landesherrn beendet werden konnte.

Hier nun nachfolgend werden ein paar Beispiele für Blutrachefälle des Mittelalters genannt:

 

"Zwei befreundete Bauern aus dem Amt Reimbeck, Peter Graumann und Henneke Gülzow, waren eines Sonntags im Dorfkrug miteinander in Streit geraten, weil Graumann im Scherz einem schon stark angetrunkenen Spielmann die letzten Tropfen einer geleerten Kanne Bier in den Nacken gegossen hatte. Der Spielmann hatte dafür dem Peter Graumann einen Schlag ins Gesicht versetzt, den dieser mit einer Maulschelle erwiderte. Nunmehr mischte sich Henneke Gülzow, den Graumann wegen seines schlechten Scherzes zur Rede stellend, in den Streit ein. Beide wurden handgreiflich. Graumann, von Gülzow zu Boden geworfen, zieht seinen „Pok“ (das zweischneidige, in einer Scheide verwahrte Dolchmesser, welches die holsteinischen Bauern bei Ausgängen über dem Rücken zu tragen pflegten) und sticht damit um sich. Gülzow stößt mit dem Ausruf: „Willst du graue Ratte dich noch wehren“ mit dem Fuß nach ihm, wird aber, dieses tuend, durch Graumanns Dolchmesser am Fuß verletzt. Niemand weiß, ob Gülzow sich die Verletzung durch seine Unvorsichtigkeit zugezogen oder ob Graumann sie ihm zugefügt hat.


Die Wunde war anfangs ungefährlich, aber infolge wiederholter Gemütsaufregungen verschlimmerte sich Gülzows Zustand und nach fünf Wochen war er tot. Auf dem Sterbebett hatte er Graumann noch freiwillig vergeben. Nichtsdestoweniger sannen von seinen fünf Brüdern vier auf Rache. Der fünfte hatte zwar oftmals die übrigen ermahnt, „dass sie gegen Peter Graumann nichts Tödliches vornehmen, sondern Gott die Rache befehlen und wenn sie an Graumann vorübergingen, die Augen niederschlagen und ihn friedlich passieren lassen möchten“. Sie gaben diesen Vorstellungen aber kein Gehör. Eines Tages drangen sie mit bewaffneter Hand in Graumanns Wohnung, alle Gemächer nach ihm durchsuchend, konnten ihn aber nicht finden. Wie Leute aus dem Dorf beobachtet haben wollten, lauerten sie dem Graumaun auch auf der Landstraße auf. Der jüngste Gülzow übte sich im Krähenschießen und ließ dabei verlauten, dass er dem Graumann in gleicher Weise tun wolle.


Graumann, durch diese Vorgänge in Furcht gesetzt, ließ den Gülzows einen Vergleich anbieten, erhielt aber ausweichenden Bescheid. Nunmehr ging er, der Vorsicht halber mit einem Feuergewehr sich bewaffnend, am 23. Dezember 1577 in Begleitung seines alten Vaters und eines Radmachers aus Bergedorf zu dem Reimbecker Amtmann, um obrigkeitlichen Schutz gegen die Nachstellungen der Gülzows zu erbitten, musste jedoch unverrichteter Sache den Heimweg antreten. Unterwegs — die Dunkelheit war bereits eingebrochen — begegneten den Heimkehrenden die vier Brüder Gülzow mit Dolchen und Spießen bewaffnet. Sie bieten den Heimkehrenden einen guten Abend, worauf diese den Gruß zurückgebend erwidern: „Einen guten Abend gebe euch Gott.“ Kaum sind sie jedoch vorüber, so ruft einer der Gülzows ihnen nach, „was für Leute sie wären?“ Der Radmacher aus Bergedorf antwortet: „er hoffe anders nichts als gute Freunde,“ darauf die Gülzows: „dass sie davon besser Bescheid wissen wollten“. Den Angeredeten wird nunmehr klar, dass die Gülzows Böses im Schilde führen und Graumann ergreift auf den Rat seiner Begleiter die Flucht, muss dieselbe aber bald wieder einstellen, weil einer der Brüder seinen großen Hund auf ihn hetzt. Jetzt macht Graumann von seiner Schusswaffe Gebrauch und tut einen Schuss, der den Hein Gülzow verletzt. Alsbald fallen die anderen Brüder über Graumann her, der eine haut ihm mit einem Federspieß ins Haupt, dass das Blut herausfließt und zieht ihn mit den Zacken des Spießes zu Boden. Wie Graumann auf der Erde liegt, fassen alle vier ihre Spieße kurz, entblößen ihre Dolche und stoßen zu. Darauf fassen sie wieder ihre Spieße, laufen um Graumann herum und stechen in ihn — wie der Radmacher bei seiner späteren Vernehmung sich ausdrückt — „wie in ein Bund Stroh“.


Furchtbar hatten die Bluträcher den Ermordeten zugerichtet. Als man die Leiche in das nächste Dorf brachte, wurden an derselben nicht weniger als 48 Wunden gezählt.


Der Entleibte hinterließ eine Witwe und zwei unerwachsene Kinder, außerdem einen alten Vater und mehrere Brüder. Die Letzteren, nicht wollend oder wagend, Rache mit Rache zu vergelten, machten gegen die Mörder ein gerichtliches Verfahren anhängig, dasselbe endigte aber mit Freisprechung der Angeklagten. Eine demnächst von den Klägern beim Reichskammergericht angebrachte Klage wegen Landfriedensbruch verlief nach langjährigen Verhandlungen im Sand.


Über die Gründe der Freisprechung konstatiert nichts. Weder die eine noch andere Partei hat zu den Akten des Reichskammergerichts einen Urteilsbrief beigebracht. Indessen wird man schwerlich fehlgehen, den veranlassenden Grund in dem Umstand zu suchen, dass ungeachtet der Fortschritte des allgemeinen Rechtsbewusstseins die Mehrheit der holsteinischen Landesbewohner noch lebendig erfüllt war von der Anschauung, welche in der Vollziehung der Blutrache ein Recht der beleidigten Familie sah."

Und Fehden konnten sogar ganze Städte in den Krieg zweier Parteien hineinziehen und hundertfaches Leid auslösen. Enthemmtes Gerechtigkeitsempfinden und Rachegelüste erzeugten wiederum Ungerechtigkeit, wie in diesem Fall die Belagerung von Limburg:

"Von vielen sei nur an den in den Fasti Limburgenses S. 130 f. mitgeteilten Fall erinnert: „Dittrich von Staffel lebt in Feindschaft mit dem Edelmann Henn Bretten von Heiresbach, Söldner und Hauptmann der Stadt Limburg. 1371 reitet von Staffel auf eine Hochzeit. Unterwegs sieht er seinen Feind, der auf dieselbe Festlichkeit reitet und setzt ihm nach. Als Staffel den Heiersbach eingeholt hat, zieht dieser sein Schwert, sticht hinter sich und trifft den Staffel in das Auge, dass dieser tot auf dem Felde bleibt. Hieraus entspinnt sich eine Fehde zwischen vier Geschlechtsvettern des Entleibten und der Stadt Limburg, die 9 Jahre dauert und im Jahr 1380 unter Beteiligung eines großen Teils der benachbarten Ritterschaft zur Berennung und Ausplünderung Limburgs führt. Nach der Eroberung der Stadt wird durch Vermittlung des Erzbischofs von Trier ein Sühnevertrag geschlossen, in welchem die Limburger versprechen, den Totschlag des Dittrich von Staffel zu „bessern“ mit Bußfahrten, Errichtung eines steinernen Kreuzes, Stiftung einer ewigen Messe und Ampel sowie Spendung von 1200 Pfund Wachs. Der Wortlaut des Vertrages bei: Hontheim, Historia Trevirensis dipl. et pragm., II, 290. Mit derselben Hartnäckigkeit und Erbitterung befehdeten sich die rheinischen Bauern."

Auch das ditmarscher Landrecht v. 1447 verbietet (§ 22) das Tragen von Waffen bei Biergelagen und auf Bierbänken bei 90 Schilling Brüche. Dieses Verbot wird sehr erklärlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was Neocorus (Chronik des Landes Dithmarschen ed. Dahlmann, I, 136, 142) von den Trinkgelagen der Dithmarschen und ihrer Neigung, im Streit sofort von der Waffe Gebrauch zu machen, erzählt:


"Dach und Nacht aneinander supen isz keine schande: It isz veel zankens under ehnen, alz under den Drunkenen plecht tho sin, solches geidt seiden alleine mit Scheltworden aff, sondern it gescheen offt Wunden und Dottschlach daraver (…) Dat menliche Herte averst und Heldenmoth isz no bi ehnen, so man anders solche schreckliche Dadt mit so ehrlichen Namen begaven mach, dat fast kein Landt mach under der Sunnen gefunden werden, darin so veel Dotschlages und Entlivung der na Got Geschapenen undereinander in gemeiner Conversation gehöret werd, dat derhalven Johan Peterssen wol sehen mach, mit wat Beschedenheit he ehnen tholecht, als scholden se sick, wo Horen under andern zanken und doch nicht van Ledder theen."


Letztere Bemerkung geht auf eine Stelle in Job. Petersons holsteinischer Chronik, worin derselbe, oder vielmehr seine Quelle: der sog. „Bremische Presbyter“ von den Ditmarschen behauptet, sie gäben sich einander die schmählichsten Worte, speiten sich einander an und dürften doch nicht vom Leder ziehen. Neocotus macht dazu die Bemerkung: „Wollte Gott, dass dies wahr wäre und es hei Scheltworten bliebe. Wäre so viel Totschlages nicht im Lande, als, Gott bessers, täglich ist.“ — Wie dürftig auch bis jetzt die Anfänge zu einer Brutalitätsstatistik des Mittelalters sind, so gewähren dennoch die spärlichen Data eine hinreichende Erklärung für die frühzeitigen strengen Maßregeln zur Beschränkung des Waffengebrauchs. Nach Mone (Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Bd. VII. S. 6) sind zu Speier v. 1333 bis 1340 fünfzehn Totschläge verübt worden, zu Lahr in dem einen Jahr 1356 sogar neunzehn.


Das Stralsunder Verfestungsbuch (herausgegeben v. O. Franke, auch unter dem Titel: Hansea tische Geschichtsquellen, Bd. I, Halle 1875), welches übrigens nicht mit Regelmäßigkeit geführt zu sein scheint, weist von 1310—1399 121 Totschläge und 103 solcher Körperverletzungen, welche teils den Tod, teils den Verlust eines Körpergliedes, Siechtum oder Lähmung zur Folge hatten, nach. Nach dem Liegnitzer Verfestungsbuch (Schuchard, Die Stadt Liegnitz, Berlin 1868) geschahen daselbst in der Zeit von 1339 — 1354, also in 15 Jahren 76 Totschläge und 67 Körperverletzungen der vorbeschriebenen Art.


In Breslau wurden inhaltlich des bis jetzt noch ungedruckten Verfestungsbuches (Städtisches Archiv, Urkundenregister Nr. 496) von 1357 — 1399, also in einem Zeitraum v. 42 Jahren 243 Totschläge und 242 Körperverletzungen der obigen Kategorie verübt. Da die Verfestungsbücher nur über flüchtige, in die Acht erklärte Täter geführt wurden, kann man unter Hinzurechnung der auf handhafter Tat abgeurteilten sowie der im Vergleichswege beigelegten Fälle die Gesamtzahl der verübten Todschläge weit höher veranschlagen.


Nachtrag 23.10.2018:

 

Schutzorte in Böhmen
In der mittelatlerlichen Zeit, wo Böhmen noch ein selbstständiges Königreich unter eigenen Landesfürsten war, hat es in der Gerichtsverfassung drei Asyle oder Schutzorte gegeben, wo ein von Gerichtswegen Verfolgter vollkommene Sicherheit seiner Person fand. Diese drei Zufluchtsorte waren:
a) Das Grab des Heiligen Wenzel in Prag.
b) Die unmittelbare Nähe der König von Böhmen
c) Die Umarmung oder schützende Bedeckung durch die eigene Gemahlin desjenigen, nach welchem gefahndet wurde.


Textquelle: Zeitspiegel: Eine chronologische Ährenlese aus der österreichischen Völker- und Staaten-Geschichte. Zur Belehrung und Erheiterung für die reifere Jugend von Joseph Alois Moshamer 1866


Textquellen aus: Blutrache und Totschlagsühne im deutschen Mittelalter - Studien zur deutschen Kultur- und Rechtsgeschichte von Paul Frauenstädt - Einblick ins Buch

 

Bildquellen von oben nach unten:

'The Work Girls of London: their trials and temptations', London, 1865


The Book of the Poets. (Chaucer to Beattie.) Illustrated with forty-five elegant engravings on steel, from designs by Corbould, &c. With an essay on English poetry. London, 1886


Looking Ahead. A tale of adventure. Not by the author of “Looking Backward”, London, 1892


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